Kernphysiker über französische Atom-Renaissance »Es geht um Nationalismus, nicht um Klimaschutz«

Atomkraftwerk im Rhone-Tal in Südfrankreich: Es läuft seit 1984
Foto: Jean Marie Hosatte / Gamma-Rapho / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Die Europäische Kommission will die Atomkraft auf Betreiben Frankreichs schon bald als nachhaltige Energieform einstufen. Investitionen in Atomkraftwerke wären dann eine grüne Investition. Wie finden Sie das?
Laponche: Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre die Atomenergie ein Klimaschützer , weil sie wenig Treibhausgase freisetzt. Das ist eine gefährliche Illusion. Es ist richtig, dass bei der Kernspaltung selbst keine Klimagase freiwerden. Aber in der gesamten Produktionskette gibt es eine Menge CO₂-Quellen: beim Uranbergbau, dem Transport nach Europa und dem Bau und Betrieb von Atomkraftwerken. Auch beim Normalbetrieb der Reaktoren entstehen Emissionen – ganz abgesehen von den Wiederaufbereitungsanlagen für abgebrannte Brennelemente.

Privat
Bernard Laponche, 84, arbeitete als Kernphysiker für das Kommissariat für Atomenergie und war in dieser Funktion an der Planung und dem Bau der ersten französischen Atomkraftwerke beteiligt. In den 1980er-Jahren war er Direktor der staatlichen Energieagentur. Später beriet er französische Umweltminister und europäische Regierungen für die staatliche Agence française de développement (Französische Agentur für Entwicklungshilfe) und gründete in den 1990er-Jahren die Umweltorganisation Global Chance.
SPIEGEL: Aber im Gegensatz zur Verbrennung von Kohle ist die Klimawirkung doch eher gering?
Laponche: Das ist richtig. Atomkraft verursacht im Vergleich zu einem Kohlekraftwerk wenig Treibhausgasemissionen. Aber ich gewinne weit mehr, wenn ich von einem Kohlekraftwerk auf ein modernes Gas-und-Dampf-Kombikraftwerk umstelle, als wenn ich auf ein Atomkraftwerk umstelle. Außerdem ist es kurzsichtig, nur auf die CO₂-Bilanz zu schauen. Die Atomkraft ist und bleibt eine Risikotechnologie. Die französischen Atomaufsichtsbehörden schließen seit Beginn der Nutzung der zivilen Atomkraft in den 1970er-Jahren nicht aus, dass es zu einem nuklearen Unfall in Frankreich oder Europa kommen könnte. Es gibt also keinerlei Sicherheitsgarantie.

Bau eines Atomkraftwerks im Loiretal 1962
Foto: Gamma-Keystone / Getty ImagesSPIEGEL: Die ältesten Atommeiler in Frankreich sind von 1980 und sollen auch noch weiter laufen. Ist das ein Problem?
Laponche: Die französischen und deutschen Kraftwerke wurden ursprünglich für 30 Jahre konzipiert. Sie wurden zu einer ähnlichen Zeit gebaut und müssten sofort abgeschaltet werden. Je älter die Reaktoren werden, desto mehr steigt das Risiko. Ein Super-GAU ist nicht nur eine Katastrophe für Mensch und Umwelt, sondern auch extrem teuer. Das haben die Unfälle in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 gezeigt. Die Kosten der japanischen Reaktorkatastrophe vor zehn Jahren werden auf 450 Milliarden Euro geschätzt. Das Risiko für die Bevölkerung und die gesamte Volkswirtschaft ist deshalb riesig. Selbst wenn es nicht zu einem Unfall kommt, sind die radioaktiven Freisetzungen bei der Lagerung der Abfälle ein permanentes Problem und der Bau von Endlagern verschlingt Milliarden Steuergelder.
SPIEGEL: Bisher hat Frankreich dank der Atomkraft eine vergleichsweise gute Klimabilanz und günstigere Strompreise als in Deutschland. Was ist daran falsch?
Laponche: In Frankreich produzieren wir 70 Prozent unseres Stroms aus Atomkraft. Deshalb haben wir derzeit in der Klimabilanz noch einen Vorteil. Das ist aber nur eine Momentaufnahme. Denn gleichzeitig halten wir unsere Klimaziele nicht ein. Beim Verkehr und der Industrie setzen wir weiter auf Öl. Der große Teil der Energieförderung fließt in die Atomenergie, andere Sektoren werden vernachlässigt. Und bei den Strompreisen werden wir in den nächsten Jahren noch eine echte Überraschung erleben. Noch sind die Preise für Strom aus älteren Reaktoren relativ niedrig. Doch bereits jetzt gibt es erste Sicherheitsprobleme, es fallen Reparaturen an, es gibt immer mehr Ausfälle. Gleichzeitig sprengen die neuen Atommeiler jede Kostenbilanz. Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) in Flamanville sollte einmal vier Milliarden Euro kosten, mittlerweile sind wir bei fast 20 Milliarden. Während Wind- und Solarstrom immer günstiger werden, wird Atomstrom immer teurer. Das wird sich bis 2030 noch verschärfen.
SPIEGEL: In Deutschland wird diskutiert, ob eine Verlängerung der Laufzeiten klimapolitisch sinnvoller ist, als die Kohlekraft länger laufen zu lassen. Was würden Sie Deutschland raten?
Laponche: Atomkraft ist keine Technologie, die man als Übergang nutzen kann. Ein Gaskraftwerk kann einfach abgeschaltet werden. Bei einem Atomkraftwerk bleiben radioaktive Abfälle für Tausende von Jahren übrig. Frankreich hat sich vor Kurzem entschieden, die Reaktoren 40 oder vielleicht sogar 60 Jahre laufen zu lassen. Das halte ich für riskant. Es gab damals einen Grund, warum wir nur für 30 Jahre geplant haben. Die Erzählung von der sauberen Atomkraft wird nun dafür benutzt, diese teure und ökologisch kontraproduktive Energiequelle zu fördern.

Mitarbeiter des Atomkraftwerks im französischen Chinon im Jahr 1976
Foto: Gilbert Uzan / Gamma-Rapho / Getty ImagesSPIEGEL: Die neue deutsche Regierung wird vielleicht bereits ab 2030 aus der Kohle aussteigen. Ist der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Atom eine gute Idee?
Laponche: Die deutsche Energiepolitik ist auf einem ausgezeichneten Weg – und dabei sollte sie auch bleiben. Natürlich müssen enorm viele Kapazitäten an Wind und Solarenergie zugebaut werden. Aber es muss auch darum gehen, Strom sparsam und effizient zu nutzen, etwa durch progressive Tarife, intelligente Netze, sparsame und effiziente Geräte. Das wäre der richtige und kostengünstige Weg. Mit zusätzlicher Atomenergie wird es nur teurer, das Risiko steigt und die Müllberge werden größer.
SPIEGEL: Das sehen Ihre Landsleute aber anders. Emmanuel Macron will sogar noch Atommeiler zubauen. Warum ist Frankreich immer noch so atomfreundlich?
Laponche: Das hat keine technologischen oder rationalen Gründe, sondern historische. General de Gaulle hat seit 1945 die Entwicklung der Kernenergie in Frankreich gefördert. Erst ging es um die militärische Nutzung, dann auch um die Herstellung von Strom. Wenn man heute Präsident Emmanuel Macron zuhört, dann schlägt er denselben Ton wie de Gaulle an: Er redet im Kontext der Atomenergie vom Ruhm und der Macht Frankreichs. Es geht also um Nationalismus, nicht um Klimaschutz, Effizienz oder die bessere Technologie.
SPIEGEL: Der ehemalige Präsident François Hollande hat vor Jahren schon einmal einen Ausstieg Frankreichs aus der Atomkraft in Aussicht gestellt. Warum gibt es nun eine Renaissance?
Laponche: François Hollande war ein sozialistischer Präsident, für den dieses militärisch-nationalistische Argument nicht im Vordergrund stand. Er hatte verstanden, dass man die Kernenergie nicht von einem Tag auf den anderen komplett abschaffen kann, sondern sie langsam reduzieren muss. Wenn Atommeiler zu schnell abgeschaltet werden, dann bringt das ebenfalls enorme Risiken mit sich. Das kann man derzeit in Frankreich beobachten. Weil mehrere große Atomreaktoren wegen Sicherheitsproblemen vom Netz gehen mussten, müssen wir enorme Mengen Strom aus anderen Ländern importieren.
SPIEGEL: Darunter auch deutschen Kohlestrom.
Laponche: Allerdings. Frankreich hat einen großen strategischen Fehler begangen und alles auf eine Karte gesetzt. Die derzeitigen Probleme der unterschiedlichen Reaktortypen sind der traurige Beweis dafür. Unser Energiesystem ist deshalb extrem problemanfällig.

Verschlingt Milliarden: Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) in der Normandie
Foto: Charly Triballeau / AFPSPIEGEL: Atomkraftbefürworter argumentieren aber, dass es auch technologische Fortschritte gibt, etwa Minireaktoren oder angeblich sichere Thorium-Reaktoren. Interessiert Sie diese Forschung als Kernphysiker gar nicht?
Laponche: Unabhängig von der Art des Reaktors gibt es immer dasselbe Grundproblem eines nuklearen Unfalls und der Produktion von hochgiftigem Atommüll. Bei den sogenannten kleinen, modularen Reaktoren haben wir das Problem mit dem Atommüll genauso. Außerdem werden einige davon mit dem Kühlmittel Natrium betrieben. Das ist hochgefährlich, es entzündet sich an Luft und explodiert mit Wasser. Das halte ich nicht für ratsam. Auch neue Varianten wie den Thorium-Reaktor sehe ich skeptisch. Das ist alles nicht überzeugend. Man sollte die Forschung an Atomenergie nicht aufgeben, und vielleicht finden wir irgendwann wirklich eine sichere Energiequelle. Aber im Moment sehe ich das nicht.
SPIEGEL: Sie haben bereits in den 1960ern die ersten französischen Atomkraftwerke gebaut – hatten Sie damals schon Bedenken?
Laponche: Ich bin Kernphysiker geworden, weil ich mich für Physik interessiert habe und mein Physiklehrer an der École Polytechnique mir riet, ans Commissariat à l'énergie atomique (Kommission für Atomenergie) zu gehen. In der Abteilung für mathematische Physik haben wir die Reaktorberechnungen auf der Grundlage von Experimenten durchgeführt. Anfangs habe ich mich mit den Risiken nicht beschäftigt. Die Arbeit war interessant, wir konnten frei forschen. Erst zehn Jahre später, als ich als Gewerkschafter die Interessen der Arbeiter in Atomkraftwerken vertrat, habe ich begonnen nachzudenken. Ich habe mich dann für die Sicherheit der Angestellten eingesetzt, die teilweise unter gefährlichsten Bedingungen arbeiten mussten. Da habe ich verstanden, dass die Atomkraft keineswegs eine saubere und sichere Energiequelle ist.
SPIEGEL: Sie sind mit Ihrer Haltung in Frankreich aber in der Minderheit. Wie kommt es, dass die Anti-Atombewegung so schwach ist?
Laponche: Es geht in Frankreich nicht nur darum, wie man am besten Strom erzeugt. Atomkraft ist in Frankreich ein historisches Erbe, das eng mit dem Nationalismus seit dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Es geht um angebliche Unabhängigkeit, militärische Stärke und Zentralismus. Gegen die Atomkraft zu sein, ist in Frankreich ein Tabubruch. Wenn Sie als Ingenieur oder Forscher in Frankreich Karriere machen wollen, dann müssen Sie für die Atomkraft sein. Es gibt deshalb nur sehr wenige, die öffentlich Kritik üben. Oftmals trauen sie sich erst etwas zu sagen, wenn sie in Rente sind. Wir haben in Frankreich keine so offene Diskussionskultur über die Energiewende wie in Deutschland, England oder den USA. Deshalb wird sich in Frankreich die Atomenergie auf Jahrzehnte manifestieren. Wir verpassen damit die Möglichkeit, einen Energiemix aus erneuerbaren Energien zu schaffen, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Dafür wird die Allgemeinheit irgendwann teuer bezahlen.