Japanische Vision Fernsteuerung für Menschen entwickelt

Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück! Eine japanische Telefongesellschaft entwickelt eine Fernsteuerung für Menschen. Eine Testerin berichtet von unkontrollierbarem Tanzzwang.

Ein Auto kann man fernsteuern, auch Roboter und Aufklärungsflugzeuge - aber einen Menschen zur Marionette machen? Die Entwickler der Nippon Telegraph & Telephone Corporation (NTT) haben das versucht, allerdings wollten sie nicht den Willen von Menschen beeinflussen. Stattdessen manipulieren sie mit einer kopfhörerartigen Vorrichtung den Gleichgewichtssinn. Ihr primäres Ziel ist es, Videospiele realistischer zu gestalten.

Yuri Kageyama von der Agentur Associated Press (AP) testete die neue Technik in einem NTT-Forschungszentrum in Atsugi bei Tokio und ließ sich per Joystick fernsteuern: "Ich fand die Erfahrung entnervend und anstrengend: Ich wollte einen Schritt vorwärts gehen, torkelte aber nur von der einen Seite zur anderen." Das habe sie buchstäblich umgehauen.

Grundsätzlich scheint die Balancemanipulation jedoch zu funktionieren. "Wenn der Steuernde den Hebel nach rechts legte, fühlte ich den unheimlichen, unwiderstehlichen Drang mich ebenfalls nach rechts zu bewegen", erklärt Kageyama. "Ich war überzeugt - fälschlicherweise - dass dies der einzige Weg sei, mein Gleichgewicht zu halten."

"Man bewegt seine Füße, bevor man sich dessen bewusst wird", schreibt Kageyama weiter. Sie habe sich sogar selbst mit dem Joystick steuern können. NTT-Entwickler sollen in der Lage gewesen sein, Versuchspersonen die Form einer überdimensionalen Bretzel entlang laufen zu lassen.

Um diesen Effekt zu erzielen, wird über ein Headset das Vestibulum elektrisch stimuliert. Dieses Sinnesorgan für die Raumlage liegt im Innenohr und wirkt bei unerwarteten Störungen des Gleichgewichts unmittelbar auf die Reflexe. Dabei ist es allen anderen Sinnesorganen vorgeschaltet.

Diese Methode der galvanischen Reizung sei altbekannt, erklärt Otmar Bock, Leiter des Instituts für Physiologie und Anatomie der Sporthochschule Köln, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. In der Praxis werde die galvanische Reizung von Ohrenärzten eingesetzt, um etwa zu prüfen, ob ein Patient einen Tumor im Innenohr hat, der seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt.

Innenansicht eines Olympiaturners

Die japanischen Entwickler haben freilich andere Anwendungen im Sinn. Noch ist kein kommerzielles Produkt geplant, die NTT-Entwickler sehen aber einen möglichen Einsatz bei Videospielen oder in Vergnügungsparks. Wenn es gelänge, das Gefühl von Bewegung aufzuzeichnen, könnte man über Lernprogramme die Innensicht einer Balletttänzerin oder eines Olympiaturners vermitteln.

Auch James Collins, Professor für Biomedizin an der Boston University, erforscht die Technik der elektrischen Vestibulum-Stimulation. Sein Ziel ist es, Gehhilfen für ältere Menschen zu entwickeln, die Stürze vermeiden helfen. Auch Menschen mit eingeschränktem Gleichgewichtssinn könnte geholfen werden.

Die Ströme, die bei dieser Methode durch die Ohren und den Kopf fließen, seien sehr niedrig und es sei unwahrscheinlich, dass sie die Gesundheit schädigen könnten, sagte Collins der Nachrichtenagentur AP. Der Kölner Physiologe Otmar Bock hat allerdings Bedenken, "ob die dauerhafte Reizung des Gleichgewichtorgans nicht zu Folgeschäden führt". So sei es denkbar, dass Anwender anfälliger für Reisekrankheiten würden.

Virtuelles Headbanging

Einige Wissenschaftler wie Timothy Hullar von der Washington University School of Medicine glauben sogar, dass man die galvanische Reizung zu einer nicht-tödlichen Waffe weiterentwickeln könnte, so die AP. Dazu müsste es gelingen, ein elektromagnetisches Feld aus der Distanz ans feindliche Ohr zu bringen. Tatsächlich forsche die texanische Firma Invocon Inc. bereits an einer solchen Anwendung.

Bei der Kopplung von induzierten Gleichgewichtsverschiebungen mit einem Autosimulator waren die NTT-Entwickler offenbar schon erfolgreich. Testperson Kageyama fühlte sich schon nach einigen Runden schwindlig. Eine Synchronisation der Impulse mit Musik führte zu einem noch wilderen Effekt. Der Kopf der Testerin machte sich selbstständig und vollführte ruckende und zuckende Bewegungen.

Welche Musik die japanischen Entwickler wählten, wurde nicht mitgeteilt. NTT-Entwickler Taro Maeda erläutert: "Wir nennen es eine virtuelle Tanzerfahrung, auch wenn manche Leute bemerkten, es sei mehr wie ein virtuelles Drogenerlebnis." Er hofft, dass Apple Interesse an der von ihm mitentwickelten Technik zeige - und dass sie eines Tages im iPod zum Einsatz komme.

Thomas Mader

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