Christian Stöcker

Klima und Steuern Die zwei größten Lügen des fossilen Kapitalismus

Christian Stöcker
Eine Kolumne von Christian Stöcker
In Großbritannien und den USA kollidieren die einstigen Verfechter der Marktwirtschaft mit dem Markt. Liz Truss stürzte – und US-Republikaner gehen auf Finanzinvestoren los. Weil sie zwei längst entlarvten Lügen nachhängen.
Ex-Premierministerin Liz Truss; Gouverneur von Florida, Ron de Santis: Finanzinvestoren haben verstanden, dass die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft unausweichlich ist

Ex-Premierministerin Liz Truss; Gouverneur von Florida, Ron de Santis: Finanzinvestoren haben verstanden, dass die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft unausweichlich ist

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[M] DER SPIEGEL; Fotos: Jeff Mitchell / Getty Images ; John Raoux / AP

Die zwei größten und folgenschwersten Lügen des globalen Fossilkapitalismus sind folgende:

  • »Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel.« (Die neue Version ist: »Im Moment können wir leider nichts dagegen tun, das wäre zu schwierig und zu teuer«).

  • »Steuersenkungen finanzieren sich selbst.«

Diese beiden Lügen sind Propagandaerfolge bestimmter Interessengruppen, die bislang stets so getan haben, als seien sie Fans der Marktwirtschaft. Politikerinnen und Politiker, die an den beiden Lügen festhalten, erleben deshalb gerade etwas Erstaunliches: Sie geraten in Konflikt mit den Märkten.

So wird offenbar, was die ganze Zeit schon galt: Viele vermeintliche Freunde der Marktwirtschaft vertreten in Wahrheit bloß die Interessen einzelner, mächtiger Gruppen und Branchen. Sie mögen keine Märkte, sie mögen ihre Finanziers. Weiter unten finden Sie ein paar Beispiele.

Niedrige Steuern für Reiche kurbeln das Wachstum an? Sicher?

Die erstere Lüge in ihrer Urversion ist nicht mehr ganz so populär wie noch vor einigen Jahren. Im Angesicht ständig schlimmer werdender Extremwetterkatastrophen, die so ablaufen, wie die Klimaforschung das seit Jahrzehnten vorhersagt (nur schneller und noch schlimmer) ist Klimawandelleugnung nicht mehr ganz so opportun. Aber sie beeinflusst selbstverständlich weiterhin politische Entscheidungen, vor allem in den USA, dem Weltmarktführer in Sachen Klima-Desinformation. Zur Erinnerung: Nur 54 Prozent der US-Wählerschaft halten die Klimakrise für eine große Bedrohung. In fast allen anderen Industrienationen sind es drei Viertel oder mehr.

Die zweite Lüge ist in den USA ebenfalls sehr populär, aber auch im Rest der Welt. Sie ist verknüpft mit dem Stichwort trickle down economics. Die Behauptung, dass Reichtum von oben nach unten durchtropft, wenn man die Reichen da oben möglichst wenig Steuern zahlen lässt, ist aber längst widerlegt.

In den USA zum Beispiel wuchs die Wirtschaft am stärksten in Dekaden mit extrem hohen Spitzensteuersätzen.

Höchste Steuersätze, größtes Wachstum

Aus »Gute Ökonomie für harte Zeiten« von Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo, die 2019 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurden: »Die Spitzensteuersätze [in den USA] lagen im Zeitraum von 1936 bis 1964 bei über 77 Prozent und in der Hälfte dieses Zeitraums bei über 90 Prozent, überwiegend in den Fünfzigerjahren unter einer republikanischen Regierung, die deutlich rechts der Mitte angesiedelt war.« Und ein Stückchen weiter im gleichen Buch: »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Reagan’schen Steuersenkungen oder die Erhöhung des Spitzensteuersatzes unter Clinton oder die Steuersenkungen unter Bush die langfristige Wachstumsrate in irgendeiner Weise beeinflusst hätten.«

Es gibt noch einen Berg weiterer empirischer Evidenz für diese Tatsache, aus vielen Ländern. Diese Evidenz gab es früher, zur Zeit der neoliberalen Theoriebildung, noch nicht. Deshalb hat die Geschichte von den wachstumssteigernden Steuersenkungen viel mit Glauben zu tun, man könnte auch sagen: mit Ideologie.

Dieser Glaubenssatz hat einen Namen

Die Behauptung »Steuersenkungen finanzieren sich selbst« ist aber eben nachweislich falsch. »Trickle-Down-Economics« ist ein von den Reichsten dieser Welt gehegter und gepflegter Mythos. Noch mal Banerjee und Duflo: »Die Wiederholung dieses Mantras durch Generationen seriöser Wirtschaftswissenschaftler hat ihm die einschläfernde Vertrautheit eines Wiegenlieds gegeben. Wir hören es noch immer von einer Schar von Wirtschaftsexperten, die sich weiterhin nicht um die Daten scheren. Es ist heute geradezu ein Glaubenssatz geworden, den jeder vernünftig denkende Mensch für wahr hält.« Er ist es aber nicht.

Dieser Glaubenssatz wird übrigens »Neoliberalismus« genannt. Einer seiner Gründerväter, der US-Ökonom Milton Friedman , hat einmal gesagt: »Ich bin immer und unter allen Umständen für Steuersenkungen, egal, aus welchem Grund und wann immer sie möglich sind.«

Christian Lindner und die »Ideologie«

Friedman ist schon seit 18 Jahren tot, aber die »Steuersenkungen für Reiche machen alle reicher«-Desinformation ist sogar noch langlebiger und hartleibiger als die Leugnung des menschlichen Klimawandels. Beide kollidieren mittlerweile aufs Härteste mit den Fakten – und mittlerweile oft genug auch mit den Märkten.

Dazu passt übrigens auch ein vieldiskutierter Tweet  des Bundesfinanzministers von diesem Freitag: Er sei für eine »ideologiefreie Energiepolitik«, ließ Christian Lindner (FDP) verlauten, und deshalb müsse man jetzt auch in Europa wieder fossile Brennstoffe fördern. Der FDP-Chef hält also das Faktum, dass wir keine weiteren fossilen Brennstoffvorräte  mehr erschließen dürfen, wenn wir die Welt nicht in den Abgrund stürzen wollen, weiterhin für eine Glaubensfrage (»Ideologie«).

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So ist das meistens bei den vermeintlichen Fans des Marktes, die eigentlich Verteidiger bestimmter Geschäftsmodelle oder Interessengruppen sind: Fakten, die ihnen nicht passen, sind »Ideologie«. Aber ihre widerlegten Ideologien möchten sie schon gern als Fakten behandelt wissen.

Was das alles mit Liz Truss zu tun hat

Liz Truss zum Beispiel ist über die Tatsache gestürzt, dass sie ihr gesamtes Regierungsprogramm auf der Steuersenkungslüge aufgebaut hat. Ihr »Mini-Budget« war im Kern eine gewaltige Steuersenkung für reiche Briten und Unternehmen. Es gab keine Gegenfinanzierung außer Wunschdenken. Weil Märkte, zumindest, wenn es ums reine Geld geht, dann aber eben doch ziemlich rational sind, kollabierten der Wechselkurs des britischen Pfunds  und die Preise für britische Staatsanleihen.

Liz Truss hat also, gemeinsam mit ihrem kurz vor ihr gefeuerten Finanzminister Kwasi Kwarteng, versucht, das alte, diskreditierte neoliberale Dogma in möglichst extremer Weise in Haushaltspolitik zu gießen. Und wurde dann ausgerechnet von den Finanzmärkten so abgestraft, dass es sie ihr Amt kostete.

Irrwitziger Originalton

Auch in den USA spielt sich gerade ein bizarrer Kampf zwischen Finanzmärkten und den Republikanern, der Partei des neoliberalen Dogmas, ab: Weil große Finanzinvestoren künftig zumindest ein bisschen weniger Geld in fossile Brennstoffe investieren wollen (was wiederum ihre Großkunden wie Pensionsfonds explizit wünschen ), werden sie von republikanischen Amtsträgern brutal unter Druck gesetzt.

Man muss das im Originalton kennen, um die ganze Irrwitzigkeit nachvollziehen zu können. Aus einem Brief von 19 republikanischen Justizministern  an den Chef des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock: »Blackrocks öffentliche Festlegungen deuten darauf hin, dass es die Investitionen unserer Bürger benutzt hat, um Firmen unter Druck zu setzen, damit sie sich an internationale Abkommen wie das Pariser Klimaschutzabkommen halten.«

Das ist hier als Vorwurf gemeint, nur, damit da keine Missverständnisse aufkommen. Zu der Liste der Vorwürfe, aus denen die zweite Hälfte des zitierten Satzes bestehen, zählt auch dieser: Die Einhaltung des Pariser Abkommens werde »die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten schwächen«.

Wer hat recht – Verteidigungsministerium oder Republikaner?

Das sieht sogar das US-Verteidigungsministerium anders: Das betrachtet nämlich nicht Klimaabkommen, sondern – völlig zurecht natürlich – die Klimakrise als Gefahr für die nationale Sicherheit  der USA.

Die explizite Drohung, die die Republikaner im Moment auf diversen unterschiedlichen Wegen vorantreiben, ist die: Wenn ihr nicht weiterhin unbegrenzt Geld in die Vernichtung der menschlichen Lebensgrundlagen investiert, verwaltet ihr künftig kein Geld mehr aus den staatlichen Pensionsfonds der von uns kontrollierten Bundesstaaten.

Der Kampf der Republikaner für die Interessen ihrer fossilen Großspender geht also mittlerweile so weit, dass sie versuchen, die Bemühungen der Finanzbranche zu stoppen, die Katastrophe nicht mit noch mehr Geld anzuheizen – obwohl die doch ohnehin viel zu zaghaft sind und sich oft genug auf Lippenbekenntnissen beschränken .

Investiert maximal rücksichtslos!

Donald Trumps republikanischer Herausforderer, der Gouverneur von Florida, Ron de Santis, versucht sich derzeit sehr offensiv mit einer Kampagne gegen sogenannte environmental, social and corporate governance (ESG) Investitionsstandards zu profilieren . Aber nicht, weil ESG oft nur Augenwischerei ist . Das Credo der Republikaner ist: Nur ein Markt, der maximale Rücksichtslosigkeit honoriert, ist ein guter Markt. Auch, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht.

Nun sind Finanzinvestoren in der Regel skrupellose, rein profitorientierte, bei Bedarf auch mit Desinformation oder Halbwahrheiten operierende Organisationen. Aber selbst dort hat man mittlerweile begriffen, dass die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft unausweichlich, die Klimakrise real und bedrohlich ist, und dass es – finanzielle! – Risiken birgt, so zu tun, als sei das nicht der Fall.

Jetzt wird klar, was wahr ist

Die Republikaner vertreten also – wie Liz Truss – hier nicht die reine Ideologie des Marktes, in dem sich das Geld selbst seinen Weg sucht. Sie verfolgen die Partikularinteressen der US-Öl- und Kohlekonzerne (und die ihrer reaktionären evangelikalen Wählerschaft). Das war natürlich schon immer so, aber jetzt, da die Klimakrise einfach nicht mehr zu ignorieren oder zu leugnen ist, wird eine Spaltung sichtbar: Bislang schien »der Markt will es so« und »Ölkonzerne und Koch Industries wollen es so« ein und dasselbe zu sein. Jetzt wird klar, dass das falsch war.

Die sogenannten Konservativen und Marktliberalen der westlichen Demokratien, ob in Großbritannien, in den USA oder auch in Deutschland, hängen leider weiterhin an den zwei alten Lügen (beim Klima mittlerweile an der neueren Version, siehe oben).

Diese Konflikte werden in den kommenden Jahren zunehmen. Die einen sind an den alten Lügen hängengeblieben – die anderen sind schon weiter.

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