CO2-Emissionen "Deutschlands Klimaziele sind total veraltet"

Schaufelradbagger in einer Kohlemine: "Der Kohleausstieg müsste spätestens 2030 kommen und nicht erst 2038"
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privat
Niklas Höhne ist Leiter des Thinktanks NewClimate Institut und Professor an der Universität Wageningen in den Niederlanden. Er ist Leiter und Mitautor von über 300 Studien zur internationalen und nationalen Klimapolitik, darunter Beiträge seit 2003 als »Lead Author« zum Vierten, Fünften und als »Contributing Author« zum Sechsten Sachstandsbericht des IPCC. Er hat den Climate Action Tracker mitentwickelt, der die Verpflichtungen und Maßnahmen der Länder zum Klimawandel begutachtet.
SPIEGEL: Herr Höhne, die Bundesregierung will in diesen Tagen ihren Fahrplan für das Klimaziel 2030 beschließen und strebt "Klimaneutralität" bis 2050 an. Ist das realistisch?
Höhne: Vor etwa zehn Jahren wurden die langfristigen Klimaschutzziele für Deutschland und die EU festgelegt. Damals wurde ein Pfad beschlossen, nach dem wir in Deutschland bis 2030 unseren Treibhausgasausstoß um 55 Prozent und bis 2050 um 80 bis 95 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren. Damals hatte man angenommen, dass es für das Erreichen des Zwei-Grad-Ziels reicht, wenn die Emissionen weltweit bis Mitte des Jahrhunderts ungefähr um die Hälfte sinken.
Das war schon ambitioniert genug. Doch inzwischen hat sich die Situation komplett verändert: Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen hat sich Deutschland verpflichtet, sogar nur maximal 1,5 Grad Erwärmung anzustreben. Außerdem haben wir zehn wertvolle Jahre verloren, in denen die Emissionen sogar noch gestiegen sind. Zusammen heißt das, wir müssen die globalen Emissionen im selben Zeitraum nicht halbieren, sondern auf Null senken. Wir müssen uns jetzt also viel mehr anstrengen.
SPIEGEL: Was bedeutet das für das Klimaschutzgesetz, das dieser Tage vorgelegt werden soll?
Höhne: Jedenfalls sind Deutschlands Klimaziele total veraltet. Es macht einen großen Unterschied, ob man 2050 noch fünf bis 15 Prozent der früheren CO2-Menge ausstoßen darf oder eben gar nichts mehr. Und wenn man bis 2050 tatsächlich null erreichen will, muss man auch den Weg dorthin anpassen, also das Ziel für 2030. Das müsste statt bei 55 eher bei 65 bis 70 Prozent liegen. Das ist in der Regierung noch nicht angekommen.
SPIEGEL: Wie sehen die Unterschiede denn konkret aus?
Höhne: Ich gebe Ihnen drei Beispiele: Der Kohleausstieg müsste spätestens 2030 kommen und nicht erst 2038, entsprechend stärkeren Zubau brauchen wir bei den Erneuerbaren. Ab 2030 dürften nur noch emissionsfreie Autos verkauft werden, selbst der effizienteste Verbrenner könnte dann nicht mehr zugelassen werden. Und auch an den Hausbau müssen wir ran: Ab sofort dürften nur noch Null-Energie-Gebäude errichtet werden, zusätzlich müssen wir den Bestand bis 2050 einmal energetisch sanieren. Vorgabe wäre also, jährlich fünf Prozent aller Gebäude umzurüsten, momentan schaffen wir nicht einmal ein Prozent.
SPIEGEL: Wo sind wir denn überhaupt auf Kurs?
Höhne: In vielen Bereichen gibt es sehr positive Ansätze. Firmen wie Thyssenkrupp und HeidelbergCement denken inzwischen um. Sie haben sich vorgenommen, bis 2050 nur noch CO2-freien Stahl und Zement zu produzieren. Solche Vorreiter müsste die Regierung beim Wort nehmen und die Politik danach ausrichten.
SPIEGEL: Unter "Klimaneutralität" verstehen viele: Wir emittieren weiter, gleichen das CO2 aber etwa durch Aufforstung anderswo aus. Kann das funktionieren?
Höhne: Das Kompensationsmodell kommt in den nächsten Jahren an seine Grenzen und wird schließlich nicht mehr funktionieren. Das hat einen einfachen Grund: Da wir global bis Mitte des Jahrhunderts Emissionen auf null senken müssen, kann kein Land mehr irgendwelche Emissionsrechte verkaufen oder die Emissionen aus anderen Teilen der Erde kompensieren.
SPIEGEL: Wenn eine Regierung macht, was Sie vorschlagen, wird das enorme Kosten verursachen.
Höhne: Jede Transformation hat Gewinner und Verlierer. Das muss man mit Sozialpolitik abfedern. Entscheidet sich die Regierung etwa für eine CO2-Steuer, könnten mit den Geldern einkommensschwache Haushalte oder strukturschwache Regionen begünstig werden - das wäre sogar Sozialpolitik durch Klimaschutz.
Es gibt Studien für die EU, die zeigen, dass der Umstieg auf ein erneuerbares Energiesystem günstiger ist, als mit dem alten weiterzumachen. Das Problem ist: Beim fossilen System hat man die geringen Investitionen und großen Nutzen sofort, die Kosten für Brennstoffe und durch die Schäden aus dem CO2 später.
Bei einem CO2-freien System ist es umgekehrt: Hohe Anfangsinvestitionen, aber später niedrige Brennstoffkosten und weniger Schäden.
Die Folgen des Klimawandels sind später erheblich teurer, als jetzt etwas dagegen zu tun. Das kann kluge Politik in Rechnung stellen. Bei der Einspeisevergütung für Erneuerbare etwa hat das geklappt: Da gab es Sicherheit für Investitionen über 20 Jahre, und die Preise sind massiv gesunken.