
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

SPIEGEL Klimabericht Der GroKo geht der Saft aus

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wenn zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine besonders große Lücke klafft, ist meistens von Klimapolitik die Rede. Angela Merkel hat das Problem bei der Vorstellung des »Klimapakets« der Bundesregierung im September 2019 in dem, wie ich finde, legendären Satz »Politik ist das, was möglich ist« auf den Punkt gebracht. Legendär deshalb, weil er offenherzig zugibt, dass Politik sich bisweilen mehr an dem subjektiv leistbaren als am objektiv notwendigen zu orientieren scheint. Der Satz ist Ausweis einer Haltung, der politischer Gestaltungswille abhandengekommen ist. Womit wir bei der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sind.
Am Montag hat sich die Große Koalition auf eine Reform beim Ökostromausbau geeinigt, der Bundestag soll sich Ende der Woche damit befassen. Ziel der Novelle müsste eigentlich deutlich mehr Tempo bei der Energiewende sein, denn in eben jenem Klimapaket aus dem vergangenen Jahr ist vorgesehen, den Anteil des Ökostroms in den nächsten zehn Jahren auf 65 Prozent zu erhöhen. Doch nach allem, was man bisher weiß, rüttelt die neue Einigung an den Ausbauzielen für Solar- und Windenergie nicht. Dabei hatten Experten schon im September gewarnt, dass die bisherigen Pläne viel zu kurz greifen.
»Bis 2030 wird der Energieverbrauch stark ansteigen, schon weil wir mehr Elektroautos auf den Straßen haben und viel erneuerbare Energie für die Herstellung von Wasserstoff brauchen«, sagte Thorsten Lenck von der Denkfabrik Agora Energiewende. Es sei abzusehen, dass mit dem geplanten Zubau bei Wind und Sonne das 65-Prozent-Ziel nicht erreicht werde.
Immerhin verhinderte die GroKo jetzt, dass alte Windanlagen ab Januar vom Netz gehen, verbesserte die Förderung von kleinen Sonnenfängern auf Hausdächern und erleichterte die Produktion von Solarstrom auf Mietshäusern – die dringend benötigte Reform ist das allerdings nicht. Neue Ausbauziele sollen im Frühjahr kommen.
Die EU treibt den klimaneutralen Kontinent voran
Dabei werden die spätestens seit Donnerstag noch dringender gebraucht. Da stimmten die Staats- und Regierungschefs der EU für eine Verbesserung des Klimaziels der Union von minus 40 auf »mindestens« minus 55 Prozent im Vergleich zum CO2-Ausstoß von 1990. »Mit diesem Beschluss sendet die EU das starke Signal an die Staatengemeinschaft, dass sie ihrer Vorreiterrolle beim Klimaschutz gerecht werden will«, sagte Brick Medak vom britischen Thinktank E3G.
Doch die Steigerung von 15 Prozentpunkten muss nun auf die 27 Mitgliedsländer verteilt werden – die rasche Dekarbonisierung des Energiesektors hierzulande wird dadurch noch wichtiger. Vieles spricht dafür, dass wir unser nationales Klimaziel kräftig anheben müssen, immerhin ist die Bundesrepublik in absoluten Zahlen der mit Abstand größte Klimasünder der EU .
Patrick Graichen, Chef von Agora Energiewende, geht davon aus , dass Deutschland die Emissionen bis 2030 um 65 Prozent unter den Wert von 1990 drücken muss. Erreichen ließe sich das »mit einem Kohleausstieg bis 2030 und der Verdreifachung des Tempos beim Ausbau der erneuerbaren Energien«.
Eine ganz andere Erklärung für die ambitionslose EEG-Reform hatte Jakob Schlandt am Montag in einem Kommentar im Berliner »Tagesspiegel« parat. Demnach verschleppe maßgeblich die Union vielleicht sogar absichtlich mehr Tempo bei der Energiewende, weil sie von einer Koalition mit den Grünen nach der nächsten Bundestagswahl ausgehen könne: »Je niedriger die Latte vor der Wahl liegt, desto sicherer ist die Union vor überzogenen Forderungen der Grünen nach der Wahl«.
Um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen, kann man natürlich auch die Ansprüche der Wirklichkeit (oder das, was man dafür hält) einfach anpassen. Das allerdings wäre der ganz falsche Weg.
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»Science«
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