Ökonom zur Politik der Ampel »Die Regierung sollte beim Klimaschutz keinen Aktionismus betreiben«

Windpark vor RWE Kraftwerk Neurath am Tagebau Garzweiler
Foto: Rupert Oberhäuser / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Deutschland hat in den kommenden 20 Jahren viel vor. Von den rund 800 Millionen Tonnen Treibhausgasen, die jährlich in die Luft gehen, dürfen 2045 unter dem Strich null übrig bleiben. Das bedeutet Klimaneutralität – netto produzieren deutsche Industrieanlagen, Kraftwerke, Tierställe oder Autos dann kein Gramm CO₂ oder Methan mehr. Die Ziele sind klar. Aber die Umsetzung ist komplex und voller Unsicherheiten.
»Niemand hat den ganz großen Masterplan«, erklärt der Klimaökonom Ottmar Edenhofer im SPIEGEL-Interview. Er gehört zum Lenkungskreis der Wissenschaftsplattform Klimaschutz, die am Freitag in Berlin ihr erstes Jahresgutachten vorgestellt hat. Die acht Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Fachrichtungen, darunter Umweltrecht, Wirtschaft und Soziologie, beraten die Regierung auf dem Weg in die Klimaneutralität.
SPIEGEL: Bis April soll die Ampelkoalition erste Sofortmaßnahmen für mehr Tempo beim Klimaschutz auf den Weg bringen: Was raten Sie der Bundesregierung in Ihrem Jahresgutachten?
Edenhofer: Das kommt vielleicht überraschend – aber wir raten der Regierung, keinen Aktionismus beim Klimaschutz zu betreiben. Statt einer schnellen Abfolge von Sofortprogrammen sollte sie einen strategischen Blick fürs Ganze behalten. Die Bundesregierung sollte klimapolitisch nicht ihren Zielverfehlungen hinterherlaufen, sondern auf Frühindikatoren schauen. Die Politik war stets in einer Aufholjagd. Aber es wäre sinnvoller, rechtzeitig auf Industrie, Landwirtschaft oder Verkehr zu schauen: Finden hier die nötigen Zukunftsinvestitionen statt, sind die Sektoren überhaupt auf dem richtigen Pfad?
SPIEGEL: Der Ausstoß von Emissionen wird ja bereits jedes Jahr im Frühjahr überprüft – und bei Bedarf muss die Regierung nachsteuern. Reicht das nicht?
Edenhofer: Wir würden einen Fehler machen, wenn wir nur auf die aktuellen Emissionen schauen. Die Investitionen von heute entscheiden über die Emissionsminderung von morgen. Ohne eine durchdachte Gesamtstrategie laufen wir Gefahr, dass wir uns in hastigen Sofortprogrammen erschöpfen und andauernd im Zugzwang sind.
SPIEGEL: Welche strategischen Debatten müssen jetzt geführt werden?
Edenhofer: Wir sollten dringend über Gerechtigkeit sprechen. Eine kluge Politik darf soziale Verwerfungen nicht gegen die Klimapolitik ausspielen. Der Umbau unserer Gesellschaft wird in diesem Jahrzehnt so schnell gehen müssen, dass man sich jetzt darum kümmern muss, die einkommensschwachen Haushalte glaubwürdig zu entlasten. Dabei werden beim CO₂-Preis die Rückerstattung und die Kompensation eine ganz herausragende Rolle spielen. Erste Konzepte dafür liegen auf dem Tisch.

Schaufelradbagger im RWE-Braunkohletagebau: In 20 Jahren ist das ein historisches Foto
Foto: Rupert Oberhäuser / IMAGOSPIEGEL: Sie warnen die Regierung also davor, dass wir Zustände wie in Frankreich bekommen, als dort die »Gelbwesten« wochenlang gegen die Erhöhung der Spritpreise protestierten?
Edenhofer: Uns liegen Untersuchungen aus Frankreich vor, die zeigen, dass die Menschen misstrauisch sind. Selbst wenn es eine Kompensation gibt, sind sie trotzdem noch gegen die CO₂-Bepreisung. Viele Bürger glauben den Versprechungen nicht und tragen deshalb den ökologischen Umbau nicht mit. Es ist unbestritten, dass die Klimawende erst mal mit hohen Kosten verbunden ist. Die entscheidende Frage ist, ob es eine ausreichende Bereitschaft gibt, diese zu tragen. Die gibt es aber nur, wenn die Leute das Gefühl haben, dass es einigermaßen fair zugeht. Und man muss aufzeigen, dass ein Verzicht auf den Umbau noch teurer wäre – wegen enormer Klimaschäden.
SPIEGEL: Als wissenschaftliche Beratergruppe machen Sie der Regierung auch konkrete Vorschläge: Was muss denn im April auf jeden Fall beschlossen werden?
Edenhofer: Wir brauchen steigende CO₂-Preise, nicht im April, aber bald – darin sind wir uns einig in der Wissenschaftsplattform. Wichtig ist der europäische Emissionshandel, der auch Verkehr und Gebäudewärme erfassen muss. Auch ein verstärkter Ausbau der erneuerbaren Energien ist dringend nötig. Aber es geht nicht nur um hundert Prozent Erneuerbare, sondern es geht um viel mehr. Wir müssen bis 2045 auf netto null Emissionen runterkommen. Dafür muss aber CO₂ aus der Luft herausgeholt werden. Wir raten dazu, manche Ziele etwas flexibler zu machen, da der Stromsektor und die Industrie wahrscheinlich mehr machen müssen, als wir das heute denken. Extrem schwierig wird es bei der Modernisierung von Gebäuden und dem Umbau der Lebensmittelerzeugung. Die Politik muss jetzt anfangen, sich diesen Themen zu stellen. Wir haben als Wissenschaftler nicht die Patentlösungen.
SPIEGEL: Wo gibt es Differenzen in der Wissenschaft?
Edenhofer: Wir sind ein interdisziplinäres Gremium – es gibt Ingenieure, Rechtswissenschaftler und auch Soziologen. Natürlich sind wir alle dafür, dass ambitionierter Klimaschutz gemacht wird. Aber wie das geschehen soll, darüber sind wir uns nicht immer einig. Wir diskutieren, welche sozialen Maßnahmen die richtigen sind und welche Technologien wir für den Umbau brauchen. Zum Beispiel Wasserstoff: Weil wir noch nicht genügend erneuerbare Energien haben, um grünen Wasserstoff herzustellen, müssen wir auch über blauen Wasserstoff sprechen. Auch die Frage, in welchem Umfang Negativemissionen benötigt werden, also wie viel CO₂ abgeschieden und im Untergrund gespeichert werden sollte, haben wir nicht abschließend beantworten können.
SPIEGEL: Negativemissionen sind bisher in der Politik kaum ein Thema. Ist das ein heißes Eisen, das die Regierung aber bald anfassen muss?
Edenhofer: Absolut. Wir sehen in ökonomischen Szenarien, dass es ohne negative Emissionen nicht geht. Aber auch hier kommt es auf das Wie an. Wir als Gesellschaft sollten jetzt anfangen, darüber zu reden. Es geht darum, mit Direct-Air-Capture-Technologien, durch Aufforstung oder den Anbau von Energiepflanzen CO₂ aus der Luft zu ziehen. Das hat alles Vor- und Nachteile. Die müssen wir klug abwägen.

Ottmar Edenhofer (r.) mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (2.v.l.) bei einer Gesprächsrunde im Schloss Bellevue
Foto: Wolfgang Kumm / picture alliance / dpaSPIEGEL: Oder mit der Untergrundspeicherung von CO₂ , die in Deutschland noch verboten ist…
Edenhofer: Genau. Und für diese Technologien brauchen wir eine vernünftige Regulierung. Was sollte künftig gefördert werden und was eher nicht? Wenn wir uns aber vor der Diskussion drücken, lösen wir gar nichts.
SPIEGEL: Brauchen wir in der Klimapolitik mehr Anreize oder mehr Verbote?
Edenhofer: Das sorgt auch in der Wissenschaft für heftige Diskussionen. Konsens gibt es darüber, dass der CO₂-Preis eine wichtige Rolle spielen muss. Doch ohne die Flankierung durch andere Politikinstrumente kann auch der CO₂-Preis nicht sinnvoll wirken. Umgekehrt sind auch die anderen Maßnahmen ohne CO₂-Preis nicht wirksam: Wenn die Regierung Elektroautos fördert, aber Verbrenner nicht mit einem hohen CO₂-Preis belastet, dann werden die Emissionen im Verkehr nicht sinken.
SPIEGEL: Der »Lenkungskreis der Wissenschaftsplattform Klimaschutz« ist noch von der alten Regierung einberufen worden. Doch die Merkel-Jahre haben auch dazu beitragen, dass die Zeit für den klimafreundlichen Umbau jetzt so knapp ist. Glauben Sie, dass die Ampelkoalition diesen Rückstand aufholen kann?
Edenhofer: In der zweiten Hälfte der letzten Legislatur unter der Regierung von Angela Merkel hat sich etwas bewegt. Das Jahrzehnt davor war ein verlorenes Jahrzehnt. Alles ging viel zu langsam. Deshalb ist der Handlungsdruck nun gewaltig. Bei der Geschwindigkeit, die wir jetzt im Klimaschutz hinlegen müssen – wir haben noch etwas über 20 Jahre – werden sicherlich Fehler passieren. Aber wir müssen versuchen, den Zufall durch Irrtum zu ersetzen – also einen Lernprozess zu organisieren, in dem wir Ziele setzen, und die Mittel zu ihrer Erreichung ständig zu überprüfen. Niemand hat den unfehlbaren Masterplan in der Schublade. Und auch das Sofortprogramm der neuen Regierung im April wird sicher unzureichend sein. Entscheidend ist aber, ob es uns jetzt gelingt, dass wir den Zug auf das richtige Gleis setzen. Nur dann kann er immer mehr an Fahrt gewinnen.