Sonderbericht des Weltklimarats Die Welt gerät aus den Fugen - fragt sich nur, wie sehr

Ein Regenbogen über dem Gazastreifen (Archivbild)
Foto: Ali Ali/ dpaDie Welt steht beim Klimaschutz vor immensen Herausforderungen. Ein an diesem Montag nach einem Treffen des Uno-Weltklimarats (IPCC) im südkoreanischen Incheon veröffentlichter Sonderbericht listet die größten Schwierigkeiten auf. Gleichzeitig fasst er die aktuelle Forschungslage zum Thema zusammen, inklusive noch bestehender Unsicherheiten.
In dem Bericht geht es um die Frage, ob die Menschheit das Ziel erreichen kann, die Erderwärmung auf anderthalb Grad im Vergleich zum Beginn des Industriezeitalters zu begrenzen. "Schnelle und weitreichende" Veränderungen seien nötig bei der Energieerzeugung, der Landnutzung, dem Städtebau, im Verkehrs- und dem Bausektor sowie der Industrie, heißt es dazu von den Forschern.
"Diese Dinge müssen sofort einsetzen. Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend in ihren Auswirkungen", sagt Hans-Otto Pörtner im Gespräch mit dem SPIEGEL. Der Meereswissenschaftler arbeitet normalerweise am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Als Co-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe II hat er den aktuellen Bericht entscheidend mitbetreut.
Der Weltklimarat betreibt keine eigene Forschung, für seine Arbeit fasst er existierende wissenschaftliche Literatur zusammen. Am aktuellen Bericht haben 91 Autoren aus 40 Ländern mitgearbeitet und rund 6000 einzelne Studien ausgewertet.
Nicht immer ist die Forschungslage eindeutig, das macht der Bericht aber transparent. Die Forscher versehen ihre Aussagen jeweils mit einem Hinweis , wie sicher man sich nach Auswertung der Literatur in diesem Punkt sein kann. Einer der bisher nicht zweifelsfrei geklärten Punkte ist etwa , wie viel Kohlendioxid die Menschheit bis zur Anderthalb-Grad-Marke noch genau in die Atmosphäre blasen darf.
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Warum aber hat sich der Weltklimarat ausgerechnet mit einer Erwärmung von anderthalb Grad befasst? War zuvor nicht immer von einem Zwei-Grad-Ziel die Rede ? Dafür gibt es zwei Antworten, eine politische - und eine wissenschaftliche.
Politisch ist die Sache so: Beim Klimagipfel von Paris Ende 2015 hatten die Staaten den Weltklimarat beauftragt, den nun vorgelegten Sonderbericht zur Erderwärmung um 1,5 Grad abzufassen. Das war vor allem eine Konzession der Industriestaaten an einige der ärmsten und am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Seht her, so sollte das Signal lauten, wir verstehen, dass ein Temperaturanstieg um zwei Grad zu gravierende Folgen gerade für eure Staaten hätte. Deswegen sehen wir uns auch an, was wir für ein weniger starkes Plus tun müssen.
Was man aber wissen muss: Bisher hat es bei der globalen Temperatur im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung bereits einen Anstieg von etwa einem Grad gegeben, es könnten auch bis zu 1,2 Grad sein. Das heißt, der Abstand zur Anderthalb-Grad-Marke ist im Zweifel schon jetzt nur noch sehr knapp. Und mit jedem Jahrzehnt steigt die Durchschnittstemperatur um weitere 0,2 Grad. Die Erwärmung läuft übrigens nicht überall gleich schnell ab. So ist die Arktis zwei bis drei Mal so stark betroffen wie der Durchschnitt des Planeten.
Neben dem politischen Aspekt des Berichts gibt es auch einen wissenschaftlichen: Denn eine Welt mit einem Plus von anderthalb Grad wäre zwar durchaus aus den Fugen, aber längst nicht so stark beeinträchtigt wie bei zwei Grad mehr im Durchschnitt. "Jedes bisschen mehr an globaler Erwärmung bedeutet auch mehr Schäden", sagt Forscher Pörtner.
Einige der Erkenntnisse des aktuellen Sonderberichts in diesem Punkt lauten:
- Der negative Einfluss des Klimawandels auf Ökosysteme an Land durch das Aussterben von Arten wäre bei nur 1,5 Grad Temperaturplus "signifikant kleiner". Auch die Risiken für die Biodiversität in den Ozeanen seien geringer (beides mit hoher Sicherheit).
- Der Meeresspiegelanstieg würde in diesem Fall bis zum Jahr 2100 um 0,1 Meter geringer ausfallen als bisher vorausgesagt, damit wären weltweit zehn Millionen Menschen weniger von Überflutungen bedroht (beides mit mittlerer Sicherheit). In seinem letzten Bericht hatte der Weltklimarat prognostiziert, dass die Pegelstände - je nach Menge der Emissionen - bis zum Ende des Jahrhunderts im Schnitt zwischen 26 Zentimeter (Bestwert bei beträchtlichen Klimaschutzanstrengungen) und 82 Zentimeter (schlechtester Wert bei höchstem Emissionsszenario) zulegen. Allerdings könnten selbst bei nur anderthalb Grad Plus irreversible Prozesse beim Abschmelzen des Eises in Grönland und der Antarktis angestoßen werden, die über Jahrhunderte gesehen gleich mehrere Meter Meeresspiegelanstieg bringen würden (mit mittlerer Sicherheit).
- Zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Quadratkilometer Permafrostboden im hohen Norden würden - über Jahrhunderte gesehen - bei nur anderthalb Grad Temperaturzunahme nicht auftauen (mit mittlerer Sicherheit). Das wäre besonders wichtig, weil diese Böden riesige Mengen an Kohlenstoff speichern, die beim Tauen in die Atmosphäre gelangen und diese weiter aufheizen.
- Beim Meereis der Arktis würde es bei anderthalb Grad Temperaturplus weiter massiv nach unten gehen - aber: Statistisch würde es nur einen Sommer pro Jahrhundert geben, in dem die Schollen rund um den Nordpol komplett wegtauen. Bei einem Plus von zwei Grad würde das im Schnitt mindestens einmal im Jahrzehnt passieren (mit hoher Sicherheit).
- Korallenriffe würden zwar durch Ozeanerwärmung und -versauerung zwar um 70 bis 90 Prozent abnehmen (mit hoher Sicherheit), aber wenigstens noch zu einem geringen Teil überleben. Bei einem Plus von zwei Grad wären dagegen mehr als 99 Prozent tot (mit sehr hoher Sicherheit).
- In "einigen Regionen" der Erde würde das Dürrerisiko sinken, in manchen Regionen auf der Nordhalbkugel, in Ostasien sowie in manchen Hochgebirgslagen würde es weniger Starkregenereignisse geben. Tropische Zyklone würden weniger verheerende Niederschläge bringen. Insgesamt würden weniger Teile der Erde von Überflutungsrisiken betroffen sein (alles mit mittlerer Sicherheit).
Wie realistisch ist es aber, tatsächlich nur anderthalb Grad Erwärmung zuzulassen? "Das Vorsorgeprinzip ruft drastisch dazu auf, in Aktion zu treten", formuliert es Meeresforscher Pörtner diplomatisch. Die 34-seitige Zusammenfassung des Klimaberichts für politische Entscheidungsträger, die der SPIEGEL für diesen Artikel ausgewertet hat, drückt es so aus: Um überhaupt Chancen zum Erreichen des Ziels zu haben, brauche es "starke Reduktionen" bei den Treibhausgasemissionen in allen Sektoren, dazu eine "breites Portfolio" an Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie "signifikante" zusätzliche Investitionen heißt es.
Bis zum Jahr 2030 müssten die Emissionen im Vergleich zum Jahr 2010 um 45 Prozent fallen - und spätestens bis zum Jahr 2050 müsse der Kohlendioxidausstoß in der Summe auf Null gebracht werden, so die Wissenschaftler. Das heißt: Wird dann noch fossiler Treibstoff verbrannt, etwa für den Antrieb von Flugzeugen, muss an anderer Stelle Kohlendioxid aktiv aus der Luft entfernt werden.
Wie weit der Weg zu null Emissionen ist, zeigt eine Zahl: Aktuell stößt die Menschheit jedes Jahr rund 41 Milliarden Tonnen Treibhausgase aus. Das Problem: Kohlendioxid ist sehr stabil, verbleibt über Jahrhunderte in der Atmosphäre - und heizt diese die gesamte Zeit über auf. Daher arbeiten Forscher mit dem Konzept eines CO2-Budgets, bei dessen Einhaltung eine bestimmte Temperaturmarke nicht überschritten wird.
Die Zahlen dazu gehen in der Literatur weit auseinander, abhängig sind sie unter anderem von der verwendeten Berechnungsmethode. Im IPCC-Bericht findet sich für eine 50-zu-50-Chance, ein Anderthalb-Grad-Ziel noch zu erreichen, ein CO2-Budget von 580 bis 770 Milliarden Tonnen (mit mittlerer Sicherheit). Die vergleichsweise große Spanne entsteht auch durch die noch nicht abschließend geklärte Frage der Klimasensitivität, also wie stark das Klimasystem auf eingebrachte Treibhausgase genau reagiert.
In einem Hintergrundgespräch stellte ein anderer IPCC-Autor aber klar: Die Unterschiede bei den Schätzungen zum Kohlenstoffbudget scheinen in Wahrheit größer, als sie sind. Es gehe eigentlich nur um ein paar wenige Jahre mehr oder weniger bis weltweit das Ziel erreicht werden müsse, netto kein Treibhausgas mehr in die Atmosphäre gelangen zu lassen.
Aktuell nicht auf Kurs für anderthalb Grad, auch nicht für zwei Grad
Wenn die Emissionen auf dem derzeitigen Niveau weitergehen, wird irgendwann zwischen 2030 und 2052 ein durchschnittlicher Temperaturanstieg von 1,5 Grad erreicht, so die IPCC-Forscher (mit hoher Sicherheit). Derzeit, auch das sagt der Bericht klar, ist die Welt nicht auf Kurs für ein Anderthalb-Grad-Ziel, auch nicht für zwei Grad. Stattdessen wären es laut den aktuellen Zusagen der Staaten für den Klimavertrag von Paris wohl irgendetwas zwischen 2,6 bis 4,0 Grad.
Was wäre nun für ein Anderthalb-Grad-Ziel bis zum Ende des Jahrhunderts nötig? Besonders interessant sind dabei für die Forscher all die Szenarien, in denen die Temperatur auch zwischenzeitlich nicht sehr weit über diesem Wert liegt ("Overshooting"). Hier einige der Vorschläge:
- Der Umbau des globalen Energiesystems müsste schnell und mit Nachdruck erfolgen. Erneuerbare Energien - also Biomasse, Wasserkraft, Wind und Solar - müssten bis zum Jahr 2050 70 bis 85 Prozent des weltweiten Stromverbrauchs decken. Auf Gas dürften weitere acht Prozent entfallen - aber nur, wenn die nicht unumstrittene CCS-Technik angewendet wird, also die Abtrennung und spätere Speicherung des CO2 im Boden.
- Die Nutzung von Kohle bei der Stromerzeugung müsste "schnell reduziert" und bis 2050 komplett eingestellt werden. Gefragt nach dem deutschen Tempo bei Kohleausstieg sagt Forscher Pörtner - und zwar dezidiert als "Privatmeinung": "Der drohende Verlust von 20.000 Arbeitsplätzen kann die nationale Umstellung auf ein nachhaltiges Wirtschaften nicht verzögern." Also: Der Ausstieg dürfe nicht hinausgeschoben werden. Das Land sei wohlhabend genug, den nötigen Strukturwandel finanziell zu unterstützen.
- Die CO2-Emissionen der Industrie müssten bis zum Jahr 2050 um 75 bis 90 Prozent sinken (im Vergleich zu 2010). Mit der Steigerung von Energie- und Prozesseffizienz allein sei das nicht zu erreichen, stellen die Forscher klar. Die Herstellungsketten müssen also grundsätzlich umgebaut werden.
- Bis zum Ende des Jahrhunderts müssten hundert bis tausend Milliarden Tonnen Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Das ist zum Beispiel durch Aufforstung möglich, durch verbessertes Landmanagement sowie das - energieintensive - direkte Einfangen von CO2 aus der Luft. Als problematisch gilt dagegen die Nutzung der sogenannten BECCS-Technologie. Dabei werden Pflanzen auf großen Flächen nur deswegen angebaut, um später in Kraftwerken verbrannt zu werden - wobei das entstehende CO2 wieder abgetrennt und gelagert werden muss. Das Problem: Diese Flächen stehen dann nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung.
Das sogenannte Geoengineering durch künstliche Wolken in der Atmosphäre wird bei den Berechnungen übrigens nicht einbezogen. Zwar könnten diese Verfahren "theoretisch effektiv" dazu beitragen, die Temperatur nach einem zwischenzeitlichen Überschreiten der Grenze schneller wieder bei einem Plus von nur 1,5 Grad einzupendeln. Sie seien jedoch mit "großen Unsicherheiten und Wissenslücken" verbunden und würden "substantielle Risiken" bergen.
Mehrere Zwischenfassungen des Klimaberichts waren in den vergangenen Monaten bereits an die Öffentlichkeit gelangt. Das Papier war in dieser Zeit intensiv von den im IPCC zusammenarbeitenden Forschern, aber auch von Politikern diskutiert worden. Vertreter der Staaten durften die wissenschaftlichen Inhalte jedoch nicht verändern. Insgesamt haben die Autoren 42.001 Kommentare aus Wissenschaft und Politik bearbeitet.
Der nächste Weltklimagipfel findet im Dezember im polnischen Katowice statt. Wichtigstes Thema dabei ist das Regelwerk zur Umsetzung des Pariser Klimavertrags. Eines haben die IPCC-Forscher den Politikern mit dem aktuellen Bericht klar gezeigt: Detailarbeit wird, so wichtig sie ist, nicht ausreichen. Weitere Zusagen für eine schnelle und umfassende CO2-Absenkung müssen her. "Emissionen dürfen nicht mehr als Schicksal betrachtet werden, sondern als etwas, das man steuern kann", mahnt auch Forscher Pörtner.