
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
SPIEGEL-Klimabericht Warum der Abschied der »Klimakanzlerin« viel bewegen wird
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
am Sonntag wird gewählt, endlich. Und mit dieser Wahl endet die Ära der Bundeskanzlerin Angela Merkel. In den 16 Jahren, in denen sie die Geschicke dieses Landes lenkte, wurden ihr verschiedene Spitznamen und Zuschreibungen zuteil. Einer davon: die Klimakanzlerin.
Und ja, Angela Merkel hat den Klimaschutz in Deutschland und der Welt vorangetrieben. Seit sie 2005 mit einem »So wahr mir Gott helfe« ihren Amtseid abgelegt hat, ist vieles anders geworden: Die Treibhausgasemissionen sinken, der Ausstieg aus der Kohlekraft ist beschlossene Sache und Deutschland zählt zu den 189 Staaten, die das Pariser Klima-Abkommen ratifiziert haben. Und sich damit rechtsverbindlich verpflichten, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten zu begrenzen, besser noch auf maximal 1,5 Grad.
Und doch: Mehr wäre möglich – und nötig – gewesen.
Die deutschen Treibhausgasemissionen sinken nicht schnell genug. Während Merkels Regierung wurden, wie Informationen der Bundesnetzagentur zeigen, mehrere Stein- oder Braunkohlekraftwerke frisch in Betrieb genommen. Den für das Jahr 2038 beschlossenen Kohleausstieg halten viele Expertinnen und Wissenschaftler für viel zu spät. Dem IPCC zufolge könnte die Weltgemeinschaft nicht einmal mehr ein Jahrzehnt davon entfernt sein, die kritische 1,5-Grad-Schwelle zu überschreiten.
Das Argument, dass Deutschland allein nichts bewegen kann, zieht nicht. Die Bundesrepublik ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Deutschland hat Einfluss, den es künftig besser nutzen muss.
»Ausreichend viel« ist nicht passiert
Auch Angela Merkel selbst scheint über die Klimaschutzbilanz ihrer Kanzlerinnenschaft nachzudenken. Bei ihrer letzten Bundespressekonferenz im Juli sagte sie: »Ich bin der Meinung, dass ich sehr viel Kraft für den Klimaschutz aufgewandt habe.« Aber: Dafür, den weltweiten Temperaturanstieg so zu begrenzen, dass der Planet einem Kollaps entgeht, sei während ihrer Amtszeit »nicht ausreichend viel passiert«.

»Klimabericht« ist der SPIEGEL-Podcast zur Lage des Planeten. Wir fragen, ob die ökologische Wende gelingt. Welche politischen Ideen und wirtschaftlichen Innovationen überzeugen. Jede Woche zeigen wir, welchen Einfluss die Klimakrise auf unseren Planeten hat und warum wir im spannendsten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts leben.
Natürlich hat sich die Welt in den vergangenen 16 Jahren gewandelt. Und das Wissen über den Zustand des Weltklimas, über die Faktoren, die es bedingen und in rasendem Tempo verändern, war zu Beginn der ersten Amtszeit von Angela Merkel noch längst nicht in dem Ausmaß in die Gesellschaft gesickert, wie es heute der Fall ist.
Über den Verlauf von vier Legislaturperioden kam es immer wieder zu akuten Krisen, die die Dringlichkeit der Klimakrise überlagert haben: 2008 meldete die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an, 2015 kamen Hunderttausende Menschen nach Deutschland, die vor Krieg und Verfolgung fliehen mussten, 2019 wurde ein Virus entdeckt, das allein in Deutschland Zehntausende Menschen töten sollte.
Die Zivilgesellschaft eilt voraus
Doch gerade in Merkels vierter Amtszeit hat sich etwas Grundlegendes verändert. Eine damals fünfzehnjährige Schwedin stieß mit ihrem Skolstrejk för Klimatet eine weltweite Protestbewegung für mehr Klimaschutz an. Und in den Minuten, in denen ich diese Zeilen tippe, versammeln sich Zehn- oder vermutlich eher Hunderttausende Menschen in Deutschland zum Klimastreik.
Es war in Merkels letzter Amtszeit, dass neun junge Menschen vor das Bundesverfassungsgericht zogen. Und es war Merkels Regierung, die im Frühjahr 2021 von eben jenem Gericht zu einer effizienteren, besseren Klimapolitik verdonnert wurde.
Große Teile der Zivilgesellschaft sind bereit, Klimaschutzmaßnahmen mitzutragen. Das meint etwa die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert, die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin arbeitet: »Bisher ist die Politik nicht wirklich aktiv geworden. Nicht nur in Deutschland ist es vor allem die Zivilgesellschaft, die verstanden hat. Und die Änderungen will«, sagte Kemfert mir am Telefon.
Kann das Kanzleramt zum Impulsgeber werden?
Deshalb ist der Abschied der Klimakanzlerin eine Chance: dass das Kanzleramt zu einem Ort wird, der für den Klimaschutz Impulse liefert, statt nur Gerichtsurteile umzusetzen. Dass bald jemand an der Spitze der Bundesregierung steht, der den Mut hat, die notwendigen Einschnitte und Umbauten in der Gesellschaft anzustoßen. Mit einem Regierungsprogramm, das die Klimakrise als das benennt und bewertet, was sie ist.
»Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft unseres Planeten.« Das sind die Worte der scheidenden Klimakanzlerin.
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Angela Merkel hinterlässt ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin eine schwere Aufgabe: den Klimaschutz in Deutschland voranzubringen
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