Klinische Depression Die verdrängte Volkskrankheit

Depression: Verdrängte, gefährliche Volkskrankheit
Foto:? Yuriko Nakao / Reuters/ REUTERS
Das Wort »Depression« teilt das Schicksal vieler andere Begriffe aus der Psychologie und Psychiatrie: Es ist nach und nach in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und hat so schleichend seine Bedeutung verändert. Begriffe wie »Psychopath« oder »Hysterie« haben ähnliche Entwicklungen durchgemacht – und werden von Fachleuten heute deshalb nicht mehr oder kaum noch verwendet.
Wenn heute jemand sagt: »Davon krieg' ich echt Depressionen« oder »Ich bin wirklich deprimiert«, dann meint er in der Regel etwas völlig anderes als das, was der Fachbegriff der klinischen Depression eigentlich bezeichnet. Das schwere psychische Leiden, das Robert Enke offenbar schließlich zum Selbstmord trieb und Millionen von Menschen hierzulande betrifft, ist etwas völlig anderes als einfach nur trübe Stimmung.
Selten ist die echte Depression beileibe nicht – Fachleute wie der Psychiater Ulrich Hegerl von der Universität Leipzig schätzen die Zahl behandlungsbedürftiger Depressiver in Deutschland auf bis zu vier Millionen. Trotzdem ist die Krankheit ein Tabu geblieben.
Die Tatsache, dass Depression heute noch so oft als bloße schlechte Laune, womöglich gar als eine Art selbst verschuldete Schwäche angesehen wird, ist ein gesellschaftliches Problem. Jährlich nehmen sich bis zu 10.000 Deutsche wegen dieser Krankheit das Leben, oft wohl auch, weil ihnen in ihrer Depression nicht geholfen wurde. Das hat vermutlich damit zu tun, dass unsere Gesellschaft sich sehr schwer damit tut, eine Krankheit als solche zu akzeptieren, die auf den ersten Blick einer vorübergehenden Verstimmung ähnlich sehen kann. Je höher der Druck, desto geringer die Toleranz – das gilt für den Leistungssport eben sosehr wie für andere Berufsfelder.
Tiefe emotionale Täler
Die milde Art von »Depression«, die wohl die meisten Menschen schon einmal selbst erlebt haben, wird von Fachleuten in der Regel als »depressive Verstimmung« bezeichnet: eine vorübergehende, manchmal durchaus sehr belastende Verschlechterung der Stimmung. Depressive Verstimmungen können vielfältige Ursachen haben – der Verlust des eigenen Jobs, Krankheiten oder ein Todesfall im eigenen Umfeld, das Scheitern einer Beziehung oder auch harmlosere Gründe. Bei der Mehrheit der Menschen vergeht die ständig gedrückte Stimmung eines Tages wieder.
Bei anderen wird aus der depressiven Verstimmung irgendwann allerdings eine chronische Depression. Schwere klinische Depressionserkrankungen von der Art, an der wohl auch Robert Enke litt, verlaufen in der Regel in Schüben – die Betroffenen stürzen immer wieder in tiefe emotionale Täler. Das Leben erscheint ihnen sinn- und hoffnungslos. In diesen Phasen können sich die Erkrankten oft nicht vorstellen, dass es ihnen jemals wieder besser gehen könnte.
Fachleute sagen, wenn solche Symptome, gepaart etwa mit Schlaf- und Appetitlosigkeit, über mehr als zwei Wochen anhalten, sei eine Depression wahrscheinlich. Die Erkrankung ist nicht leicht zu diagnostizieren – auch deshalb, weil sie so vielgestaltig auftritt. Manche Betroffene haben beispielsweise nicht Schlafdefizit, sondern im Gegenteil ein enorm gesteigertes Schlafbedürfnis.
Die Unfähigkeit, außer Verzweiflung irgendetwas zu empfinden
Eine echte Depression verändert den Menschen in vielerlei Hinsicht. Manche erleben sie vornehmlich körperlich – so mancher Depressive geht nur zum Arzt, um sich Medikamente gegen Rückenschmerzen oder Einschlafstörungen verschreiben zu lassen – nicht etwa, weil er eine psychische Erkrankung vermutet. Oft geht die Erkrankung auch mit einer körperlich empfundenen Antriebsschwäche einher, einem Gefühl der Kraftlosigkeit, das den Betroffenen buchstäblich lähmt. Andere Patienten hingegen werden rastlos und können nicht mehr oder kaum noch still sitzen. Verbunden ist dies oft mit der Unfähigkeit, außer Verzweiflung überhaupt noch irgendwelche Gefühle zu empfinden.
Depression verändert auch das Denken: Betroffene haben Konzentrations-Probleme, manche erleben massive Gefühle von Schuld und eigener Wertlosigkeit. Sie sehen die Welt schwarz-weiß. Dinge, die nicht rundweg positiv laufen, werden als katastrophal schlecht empfunden. Und sie fühlen sich unter Umständen für Leid in ihrer persönlichen Umgebung oder andere Missstände persönlich verantwortlich.
Einige Forscher glauben, dass Depressive in gewisser Weise und in bestimmten Situationen die Welt sogar realistischer wahrnehmen als Nicht-Depressive – zumindest in den eng definierten Grenzen psychologischer Experimente. Man spricht in diesem Zusammenhang von »depressivem Realismus«.
Selbstmordgedanken sind ein untrügliches Alarmsignal
Im Falle schwerer klinischer Depressionen führt dieses womöglich in Einzelfällen sogar realistische Gefühl von Machtlosigkeit jedoch oft zu katastrophalen Folgen. Spätestens, wenn ein Patient beginnt, sich mit dem Thema Selbstmord auseinanderzusetzen, besteht höchste Gefahr.
Depressive Menschen, die Gedanken an einen Suizid äußern, brauchen sofortige professionelle Hilfe. Die Vorstellung, man könne jemandem, der an einer echten Depression leidet, allein mit Freundlichkeit und gutem Zureden helfen, ist verfehlt, ja sogar gefährlich. Depressive mit Selbstmordgedanken müssen unter Umständen stationär in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, um vor sich selbst beschützt zu werden. Solange, bis Medikamente und Therapie erste Wirkung zeigen. Das Problem dabei: Moderne Antidepressiva wirken nicht sofort, sondern unter Umständen erst nach einigen Wochen.
Eine klinische Depression lässt sich heute mit mehreren Methoden behandeln – meistens werden wenigstens zwei davon parallel eingesetzt: Psychotherapie und Medikamente. Antidepressiva helfen, weil bestimme Botenstoffe im Gehirn bei Depressiven aus dem Gleichgewicht geraten. Mit verschiedenen pharmakologischen Methoden lässt sich die gestörte Balance zumindest teilweise wiederherstellen. Dazu aber müssen über einen langen Zeitraum hinweg kontinuierlich Medikamente eingenommen werden.
Parallel dazu werden depressive Patienten psychotherapeutisch behandelt. Dabei geht es zum Teil um simple, aber äußerst wichtige Verhaltensweisen – ein Depressiver, der den ganzen Tag im Bett liegen bleibt, verschlimmert sein Leiden womöglich noch. Fachleute wie Ulrich Hegerl sprechen von einem Teufelskreis zwischen körperlichem Missempfinden und depressivem Erleben. Ein wichtiger therapeutischer Ansatz – aber nur einer von vielen – ist deshalb, die Betroffenen gezielt zu möglichst belohnenden Aktivitäten zu bringen.
Einerseits will man so gegen die körperliche Schwächung und Trägheit vorgehen, die alle Symptome noch verschlimmert. Andererseits ist es wichtig, depressive Menschen in Situationen zu bringen, die dazu beitragen können, dass ihnen das Leben wieder lebenswert erscheint.