Kriminalität Wenn Maschinen Gedanken lesen

Die Gedanken sind frei - das war einmal. Neurotechniker entwickeln Methoden, die tiefe Blicke in die Innenwelt erlauben. Denn Gedanken hinterlassen Spuren, die gelesen werden können - von Fahndern oder jedem, der die richtige Technologie besitzt.
Von Chris Löwer

Für die Gerichte war die Sache klar: Terry Harrington ist ein Polizistenmörder. Harrington konnte die Richter nicht von seiner Unschuld überzeugen. Er erhielt lebenslänglich wegen des Vorfalls in der Nacht des 22. Juli 1977, der Mordnacht. Der damals 17-Jährige soll nach Angaben des 16-jährigen Belastungszeugen Kevin Hughes den Polizisten John Schweer erschossen haben.

25 Jahre lang saß der heute 42-Jährige ein. Vor anderthalb Jahren dann der überraschende Freispruch durch den obersten Gerichtshof des US-Bundesstaates Iowa. Was Ermittler und Richter bisher versäumt hatten: Harringtons Gehirn zu befragen.

Diesen Job übernahm Lawrence Farwell. Der Psychologe und Präsident des Human Brain Research Laboratory in Fairfield hat den gerichtsverwertbaren Gegenbeweis erbracht, indem er ergründete, was sich in jener Nacht im Kopf des zu Unrecht Beschuldigten abspielte. Der Psychologe hat ein Verfahren entwickelt, das er "Brain-Fingerprinting" nennt. Seine Suche nach der Wahrheit beginnt am Ursprung der Lügen: im Gehirn. Das ist nur logisch. Was nicht heißt, dass die Verfahren einfach und stets treffsicher sind.

Anhand des so genannten P300-Potenzials werden mit einem einfachen Test Gedächtnisspuren freigelegt, die jahrzehntealt sein können. Die mit Geld der CIA unterstützte Methode basiert auf Reaktionen der Hirnstromwellen (EEG), die exakt 300 Millisekunden nach Wahrnehmung eines außergewöhnlichen optischen oder akustischen Reizes auftreten - etwa dem Erinnern an Details einer Straftat. Starke Emotionen lassen sich dann auf der Kopfhaut durch Sensoren messen.

P300-Potenzial verrät Erinnerungen

So musste der vermeintliche Polizistenmörder Harrington keine mehr oder weniger hintersinnigen bzw. durchsichtigen Fragen wie bei einem Lügendetektor-Test beantworten. Er setzte sich, an ein EEG-Gerät angeschlossen, vor einen Computermonitor, auf dem unvermittelt eine Reihe von Begriffen auftauchte. Neben vielen Belanglosigkeiten erschienen auch Dinge, die in direktem Zusammenhang mit der Tat standen und von denen nur Ermittler und Täter wissen können. Das können banale Begriffe sein, wie Einzelheiten zum Mobiliar des Tatortes. Anhand des EEGs zeigt sich in diesem Fall eine verräterische Kurve, der so genannte P300-Ausschlag. Das in jedem verankerte P300-Potenzial ist willentlich nicht zu beeinflussen.

Der Psychologe präsentierte Harrington winzige Details rund um die Tat, ihren Hergang, die Flucht. Da der Beschuldigte schwor, zur Tatzeit in einer Diskothek gewesen zu sein, wurde er nun auch mit einzelnen Musiktiteln dieser Nacht konfrontiert. Anhand farbiger Linien und Ausschläge, die die Gehirnreaktion widerspiegeln, wurde bald klar: Informationen über den Mord regten das Gehirn nicht an, wohl aber jene, die das Alibi betrafen.

Farwell, der laut "Time Magazine" zu den 100 potenziellen "Picassos und Einsteins des 21. Jahrhunderts" gehört, folgerte: "Die Gehirnreaktionen zeigten eindeutig, dass die im Kopf des Beschuldigten gespeicherten Daten nicht mit der Tat und ihren Umständen, sondern eindeutig mit dem Alibi korrespondierten." Das musste auch der Hauptbelastungszeuge einsehen: Er widerrief seine Aussage mit der Begründung, gelogen zu haben, um nicht selber verdächtigt zu werden.

Die P300-Methode funktioniere allerdings nur, "wenn der Kandidat konzentriert den Test verfolgt und nicht an anderes denkt oder während der Messung den Bildschirm ignoriert", sagt Axel Mecklinger. Ist diese Voraussetzung gegeben, hält der Professor für Experimentelle Neuropsychologie an der Universität des Saarlandes die Methode für verlässlich. Eine weitere kleine Einschränkung nennt Klaus-Peter Dahle, Psychologe an der Freien Universität Berlin: "Möglicherweise können auch Signale auf eingebildete Wirklichkeiten entstehen. Man kennt das von Zeugenbefragungen nach Unfällen, die schwören, die Ampel sei rot gewesen, obwohl sie Grün zeigte." Die Erinnerung kann trügerisch sein.

Jagd auf terroristische Schläfer

Außerdem muss sichergestellt werden, dass der Beschuldigte nicht etwa doch im Laufe des Prozesses mit einem Beweismittel in Kontakt gekommen ist, auf das er dann reagiert - eine Kleinigkeit mit fatalen Folgen. Daher ist die Sammlung der Fakten ein diffiziles Geschäft. Farwell spielte deshalb selbst Detektiv und sammelte mögliche Indizien, die noch nicht aktenkundig waren.

Der Forscher will mit seiner Methode gar mutmaßlichen Terroristen das Handwerk legen, die als Schläfer auch in deutschen Städten ein unauffälliges Leben führen. Informationen und Fotos aus den Lehrbüchern der Terroristen könnten P300-Signale hervorrufen.

Unterdessen erleben Gedankenexperimente eine ungeheure Konjunktur. Forscher des Zentrums für "E-Wissenschaft" im schottischen Edinburgh entwickeln gerade eine Hirn-Scan-Methode, mit der frühzeitig Depressionen, Schizophrenie, Altersvergesslichkeit und andere Erkrankungen der Psyche diagnostiziert werden können. Dabei scannt ein Tomograph das Gehirn und vergleicht die Daten mit denen gesunder Gehirne. Die Kehrseite der Technologie könnte allerdings spätestens dann zum Vorschein kommen, wenn Arbeitgeber einen solchen Test zum Bestandteil der Bewerberauswahl machen sollten.

Gehirn-Screenings vor dem Verbrechen?

Tiefe Einblicke in die Psyche gelingen auch Dieter Braus, Psychiatrie-Professor am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Er weist mit Hilfe eines Kernspintomografen nach, dass sich der Blutfluss in bestimmten Gehirnarealen von pädophilen Straftätern verändert, wenn sie etwa durch Kinder in Badebekleidung gereizt werden. Der Inhaber der in Deutschland einzigartigen Professur für Bildgebung in der Psychiatrie glaubt, auf diese Weise eine Veranlagung erkennen zu können. Testpersonen gaben zwar an, die Fotos ließen sie kalt, ihre neuronalen Aktivierungsmuster ließen aber eindeutige Schlüsse auf das Gegenteil zu.

Andere werden von den technologischen Möglichkeiten zu Ideen verleitet, die an schaurige Zukunftsvisionen aus Hollywood erinnern - etwa an Steven Spielbergs Film "Minority Report", in dem eine Gedankenpolizei die Innenwelten unbescholtener Bürger überwacht und sie verhaften lässt, ehe sie Verbrechen begehen können.

Der Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel und der Mainzer Philosophieprofessor Thomas Metzinger etwa können sich Gehirn-Screenings bei Kindern und Jugendlichen vorstellen, um früh zu erkennen, wer später mal kriminell werden könnte. Schließlich, so Merkel, würden die neuen Testverfahren Grundlagen seelischer Störungen offenbaren. Der Bürger habe zwar ein Recht auf Privatsphäre - aber der Staat müsse auch seine Bürger schützen.

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