Küstenschutz Kampf um die Deiche
Wann immer Kiels Ministerpräsident Peter Harry Carstensen wie in diesen stürmischen Tagen die von den Fluten angeknabberte Insel Sylt besucht, kann der Christdemokrat mit relativ freundlicher Aufnahme rechnen. Denn die Insulaner sehen in dem weißbärtigen Bauern aus Nordstrand einen der Ihren. Vor allem aber: Schleswig-Holstein gilt, schon seit der Ära der sozialdemokratischen Landesmutter Heide Simonis, als deutscher Vorreiter in Sachen Küstenschutz.
Carstensens niedersächsischer Amtskollege und Parteifreund Christian Wulff, ansässig im meeresfernen Osnabrück, sieht hingegen seine eigene Küstenschutzpolitik derzeit von Experten attackiert: Ausgerechnet das Bundesland mit der längsten Waterkant, so schallt es ihm aus der Fachwelt entgegen, unterlasse es, sich angemessen für die zunehmende Bedrohung durch Stürme und Sturmfluten zu wappnen.
Einer der schärfsten Kritiker der Wulffschen Küstenschutzpolitik ist Michael Schirmer, Deichhauptmann im Weser-Stadtstaat Bremen. Dessen 660.000 Einwohner, umzingelt von niedersächsischem Territorium, sind unmittelbar abhängig von der Qualität der hannoverschen Schutzvorkehrungen.
Schirmer, ehrenamtlicher Hauptmann des Deichverbandes Rechts der Weser, weiß, dass ohne stabile Deiche rund 85 Prozent der Bremer Stadtfläche zweimal täglich überflutet würden. Mit "großer Anteilnahme" hätten daher viele Weser-Anrainer "das unglückliche Schicksal der Stadt New Orleans" verfolgt, wo ein Hurrikan im August 2005 eine absehbare, aber lange verdrängte Überflutung auslöste.
"Völlig weltfremd und veraltet"
Misstrauisch beobachtet der Bremer Deichgraf die Politik seiner niedersächsischen Nachbarn. Deren Küstenschutzkonzept, so Schirmer zu SPIEGEL ONLINE, sei "völlig weltfremd", weil sie auf "veralteten Daten" basiere. Wulffs freidemokratischer Umweltminister Hans-Heinrich Sander tue so, "als gebe es den Klimawandel nicht" und damit auch nicht den infolgedessen zu erwartenden weiteren Anstieg des Meeresspiegels.
Schirmers Urteil hat Gewicht. Denn der von den Bremer Bürgern gewählte Deichhauptmann ist nicht nur ein erfahrener Praktiker, sondern als Hochschullehrer auch einer der profiliertesten deutschen Deichwissenschaftler.
Im Auftrag des Berliner Forschungsministeriums hat Schirmer gemeinsam mit seinem Kollegen Bastian Schuchardt sowie 20 anderen Mitautoren 2005 das Standardwerk "Klimawandel und Küste" verfasst. Zudem war er Koordinator des bundesweit betriebenen interdisziplinären Projekts "Klimawandel und präventives Risiko- und Küstenschutzmanagement" (KRIM), das gerade abgeschlossen worden ist und dessen Ergebnisse in Juni im Econ-Verlag in Buchform veröffentlicht werden sollen.
Was Schirmer und seine Mitstreiter aus Forschungsinstituten in Jülich, Geesthacht und Hannover zu Papier gebracht haben, stärkt nicht eben das Vertrauen in den Küstenschutz. Betroffen von dessen Defiziten ist vor allem das Land Niedersachsen, das mit einem Siebtel seiner Fläche weniger als zwei Meter über dem Meeresspiegel liegt; ohne die rund 600 Kilometer langen Hauptdeiche wäre das Siedlungsgebiet von 1,2 Millionen Landeskindern unbewohnbar.
Die schützenden Deiche zerbröseln
Schon 2005 hatten die Bremer Experten festgestellt: Gemessen an den Niederlanden, wo 1953 bei einer gewaltigen Sturmflut mehr als 1900 Menschen umkamen, ist das Schutzniveau der norddeutschen Deiche dürftig. Während der holländische Küstenschutz so üppig bemessen ist, dass er sogar Ereignissen standhält, wie sie sich rechnerisch nur alle 4000 bis 10.000 Jahre zutragen, sind deutsche Deiche für eine "Wiederkehrhäufigkeit" extremer Zustände von lediglich 3000 Jahren (rechts der Weser) beziehungsweise 1000 Jahren (links der Weser) ausgelegt.
Politischen Sprengstoff birgt vor allem eine andere Kalkulation: Das ohnehin relativ niedrige Schutzniveau der deutschen Deiche werde sich bis zum Jahr 2050 weiter dramatisch verringern, und zwar um den Faktor 5 bis 10. Der Küstenschutz links der Weser etwa würde demnach bereits in Extremsituationen versagen, wie sie statistisch alle 130 Jahre eintreten.
Dass die Schutzwirkung der deutschen Deiche so rasch zerbröseln könnte, führen die Wissenschaftler auf zwei parallel ablaufende Prozesse zurück:
- Bis zur Jahrhundertmitte werde der Boden etwa der Wesermündung um 15 Zentimeter absacken eine unabwendbare, auf tektonischen Ursachen beruhende "säkulare Senkung".
- Im selben Zeitraum steige der Meeresspiegel der Nordsee infolge des globalen Klimawandels um schätzungsweise 40 Zentimeter an.
Das Zusammenspiel beider Trends bewirke zudem, dass der Reibungsverlust abnimmt, der beim Heranrollen der Wellen an die Küsten entsteht. Dieser Effekt entspreche, so die Autoren von "Klimawandel und Küste", einer Reduzierung der Schutzwirkung um weitere 15 Zentimeter Deichhöhe.
"Grönland - die Riesenunbekannte im Hintergrund"
Die Dämme müssten also summa summarum um 70 Zentimeter aufgestockt werden, wenn auch nur das jetzige (niedrige) Schutzniveau gehalten werden soll. Weil die globale und säkulare Entwicklung ein "nicht mehr akzeptables Risiko" darstelle, folgern Schirmer und Kollegen, müssten "sämtliche Deiche an Nord- und Ostsee erhöht" werden.
Orkan, Hurrikan, Zyklon und Taifun
Mit Meeresspiegelwerten in ähnlichen Größenordnungen operieren die meisten namhaften Klimaforscher; eine jüngst erschienene EU-Studie geht sogar von einem Anstieg um einen Meter aus. Viele Wissenschaftler verweisen außerdem auf zusätzliche Belastungsfaktoren wie einen deutlichen Anstieg der Windintensität und eine Häufung von Orkanen wie "Kyrill". Kaum berechenbar sind zudem die Folgen eines beschleunigten Abschmelzens der grönländischen Eiskappe: "Das ist," so Schirmer, "die Riesenunbekannte, die im Hintergrund herumlungert."
Die Mahnungen von Forschern haben bereits 2001 die Landesregierung von Schleswig-Holstein wo fast ein Viertel der Fläche als "überflutungsgefährdete Küstenniederung" gilt dazu veranlasst, in ihrem "Generalplan Küstenschutz" für das 21. Jahrhundert einen klimabedingten Meeresspiegel-Anstieg von immerhin 50 Zentimetern zugrunde zu legen.
Klimawandel nur in China und Indien?
Ganz anders Niedersachsen. Dort hat die christliberale Regierung noch vorigen Monat einen Küstenschutz-Plan präsentiert, der keinerlei speziellen Klimawandel-Zuschlag vorsieht. Für Umweltminister Sander finde die Klimaänderung offenbar "nur in China und Indien" statt, rügte die Landes-SPD.
In die komplizierte Berechnung der künftigen Sollhöhe niedersächsischer Deiche fließt lediglich der durchschnittliche Meeresspiegelanstieg im vorigen Jahrhundert in Höhe von 25 Zentimetern ein eine Zahl, die schlicht von der Vergangenheit in die Zukunft fortgeschrieben wurde.
Dabei ist nach Ansicht von Experten schon jetzt mit deutlich höheren Werten zu rechnen. "Das Wasser wird in Zukunft schneller ansteigen", urteilt der Physiker Stephan Mai von der Koblenzer Bundesanstalt für Gewässerkunde. Dieser Trend habe sich bereits im dritten Drittel des vorigen Jahrhunderts bemerkbar gemacht, ergänzt Schirmer: "In den letzten 40 Jahren ist der Meeresspiegel hierzulande zwei- bis dreimal so schnell wie bisher gestiegen."
"Es ist inzwischen allen klar, dass wir eine Klimaerwärmung haben," verlautbarte vorletzte Woche auch Peter Ehlers, Präsident des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie. Er folgert daraus: "Wir müssen uns viel intensiver als bisher mit der Frage auseinandersetzen, welche Auswirkungen die Klimaveränderung auf die Meere, die Schifffahrt, die Umwelt und die Küsten hat."
"Alle Risiken werden klein- und weggeredet"
Dass die Niedersachsen in ihre Deichbau-Rechnung trotz alledem nur einfließen lassen wollen, "was am Pegel Norderney in den letzten 100 Jahren passiert ist", und sämtliche Szenarien für das 21. Jahrhundert außer Acht lassen, hat nicht zuletzt "finanzielle Gründe", wie der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) einräumt: Auch ohne dem Klimawandel Rechnung zu tragen, muss das finanzschwache Niedersachsen in den kommenden zehn Jahren 500 Millionen Euro investieren, um seine Deiche auch nur auf das landesübliche Minimalmaß aufzustocken.
"Alle Risiken werden klein- und weggeredet", empört sich Schirmer. Immer gehe es nur um die Frage: "Wer soll das bezahlen?"
Um ihre Sparpolitik in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, berufen sich die niedersächsischen Küstenschützer gern auf die angeblich unzureichende Datenlage. "Das Geld, das Niedersachsen jedes Jahr für den Küstenschutz ausgibt, reicht ohnehin kaum aus. Da packen wir lieber konkrete Probleme an als eine eventuelle Zukunft auf unsicherer Datenbasis", argumentiert Hanz Niemeyer von der niedersächsischen Forschungsstelle Küste.
Der Klimawandel, mokiert sich Schirmer, sei "in den Köpfen auch solcher Leute, die tagtäglich mit Küstenschutz und Ähnlichem zu tun haben, noch nicht ganz angekommen".
Wer erst exaktere Daten zum Klimawandel verlange, bevor er tätig werde, übersehe eines: "Genauere Zahlen habe ich erst, wenn die Katastrophe richtig eingetreten ist." Daher müsse der Deichbau nun erst recht seinem traditionellen Leitsatz folgen: "Lass uns noch einen Spaten mehr darauf tun, zur Sicherheit."
Lesen Sie im 2. Teil: "Hinterm Deich wird es immer unsicherer"
Statt, wie Wissenschaftler empfehlen, die Deiche baldmöglichst erhöhen zu lassen, vertrösten Niedersachsens Regierende das plattdeutsche Küstenvolk lieber auf später. Falls sich zeige, dass der Meeresspiegel wirklich so schnell ansteigt und Sturmfluten so häufig auftreten, wie es Forscher prognostizieren, bleibe immer noch "hinreichend Zeit für eine dann erforderliche Nacherhöhung", beruhigt etwa Rainer Carstens die Gemüter.
Unabhängige Experten wie der Bremer Deichgraf Michael Schirmer halten die Behauptung, bei heraufziehenden Krisenlagen ließen sich die Deiche einfach noch mal um einen Meter erhöhen, für praxisfern. Schließlich hätten es die Niedersachsen "in 30 Jahren nicht einmal geschafft, ihren alten Generalplan Küste umzusetzen" noch immer seien von den einstmals vorgesehenen Maßnahmen "30 Prozent nicht abgearbeitet".
Deicherhöhungen erfordern Zeit. So gibt Schirmer zu bedenken, dass höhere Deiche schließlich auch breiter sein müssen, um Wasserstand und Wellen widerstehen zu können. Der Raum hinter dem Deich aber sei oft bebaut oder in Privathand, daher erfordere eine Verbreiterung des Deichfußes oft langwierige Grundstücksverhandlungen.
Wenn der Deich im Boden versinkt
Nicht selten seien einer Deicherhöhung außerdem bodenphysikalische Grenzen gesetzt: Bei unsicherem Grund "wächst mit der Größe des Deichs die Gefahr, dass er im Boden versinkt".
Überhaupt, so gibt auch die Öko-Organisation WWF zu bedenken, sei die "übliche Methode der Verteidigung auf vorhandener Linie", also stetige Deicherhöhung, keineswegs immer der Weisheit letzter Schluss.
Verstärkt müsse schon jetzt über Alternativen nachgedacht werden von einer zweiten Deichlinie im Hinterland und der Anlage von Entlastungspoldern über die Ausweisung von Gebieten mit unterschiedlichen Schutzstandards bis hin zu Bauverboten in Regionen, die auf Dauer nicht zu halten seien.
Wer einzig auf Deicherhöhung setze, warnt auch der Hamburger Klimaforscher Hartmut Graßl, beschleunige noch die bedrohlichen Entwicklungen an der Waterkant.
"Marschen sind zunehmend überflutungsgefährdet"
Die enge Eindeichung eines Stroms wie der Unterelbe etwa habe in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, den Tidenhub und damit die Flutgefahr stetig steigen zu lassen, während die permanente Flussvertiefung zugunsten der Hamburger und Bremer Hafenwirtschaft zugleich die Entwässerung des Umlands beschleunige und damit dessen weitere Absenkung.
Folge: In Norddeutschland liegen "immer mehr Gebiete bis zu zwei Metern unter Null", so dass allein deshalb die Auswirkungen von Deichbrüchen ungleich verheerender wären als in früheren Jahrzehnten. Graßl: "Die Marschen sind zunehmend überflutungsgefährdet."
Ganz zu schweigen von den zusätzlichen Folgen des Klimawandels: Jede künftige Sturmflutwelle, erläutert der Wissenschaftler, "reitet schließlich auf dem gestiegenen Meeresspiegel". Da könnten sich die Norddeutschen noch so sehr freuen, "dass sie wegen der trockenen und warmen Sommer häufiger im Straßencafé sitzen können," sagt Graßl, "gleichzeitig werden ihre Häuser hinter dem Deich immer unsicherer".
Seit dem Abschluss des KRIM-Projekts lässt sich erstmals beziffern, welche Schäden bei einem angenommenen Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern und einer Erhöhung der Windgeschwindigkeit um 7 Prozent an der Unterweser zu erwarten sind.
Schäden bis zu 22 Prozent des Stadtvermögens
Die "Versagenswahrscheinlichkeit durch Überströmen" der Deiche würde sich in Bremen versechsfachen. Bei Extremereignissen wie dem Sturm "Anatol", der 1998 über Nordeuropa fegte, sei bei dem angenommenen Klima-Szenario mit Vermögensverlusten in Höhe von 2,7 Milliarden Euro allein in den Untersuchungsgebieten an der Unterweser zu rechnen.
Die Einbußen lägen, so die Studie, "zwischen 1 Prozent des Gesamtvermögens der Stadt Bremen und 22 Prozent des Gesamtvermögens der Stadt Wilhelmshaven".
Aus alledem folgt für die Wissenschaftler des KRIM-Projekts, dass "langfristig der derzeitige linienhafte Küstenschutz zu einem raumbezogenen Küstenschutz weiter entwickelt werden sollte" auch wenn damit "erhebliche Konfliktpotenziale" verbunden seien. Beispiele:
- Eine Option auf zweite und weitere Deichlinien im Hinterland, die nach niederländischem Vorbild zusätzliche Sicherheit bieten könnten, müsste frühzeitig in der Raumordnungsplanung verankert werden, würde aber Proteste von Anrainern auslösen.
- Der Bau von Sturmflutsperrwerken wie in London und Rotterdam könnte zwar auch deutsche Großstädte wie Hamburg oder Bremen verstärkt vor Extremwasserständen schützen, würde aber den Widerstand der hanseatischen Hafenwirtschaft herausfordern.
- Eine offen betriebene Politik, "die Deichhöhen dem dahinter liegenden Schadenspotenzial anzupassen", wäre zwar ökonomisch sinnvoll, würde aber, wie Schirmer einräumt, "gesellschaftliche Standards in Frage" stellen und die Bevölkerung dünn besiedelter Landstriche auf die Barrikaden treiben.
Statt solche politisch riskanten Debatten anzustoßen, begnügen sich Politiker zumeist damit, ihren Wählern Sicherheit vorzugaukeln so auch Umweltminister Sander, der schlankweg versichert: "Niedersachsen ist für dieses Jahrhundert ausreichend gegen Sturmfluten geschützt."
"Eindrucksvoller lässt sich Protest nicht darstellen"
Die Bürger hören es gern, denn sie wissen es nicht besser auch weil die Umweltverbände, wie Forscher Graßl kritisiert, die Debatte über die Folgen des Treibhauseffekts lange Zeit "einfach verschlafen" oder "bewusst niedrig gehängt" haben, "um nicht den Kernenergieknüppel zu mobilisieren".
Und weil "Probleme des Klimawandels für den Küstenschutz" auch "im nationalen Mediendiskurs so gut wie nicht erwähnt" worden seien, sei die Bedrohung lange Zeit nicht einmal von der Küstenbevölkerung spontan thematisiert worden, heißt es im KRIM-Abschlussbericht. Selbst in Bremen, bestätigt Schirmer, sei weiten Kreisen der Bevölkerung "völlig unklar, wie die potentielle Gefährdungslage ist".
Doch mittlerweile bahnt sich ein Wandel an ausgerechnet rund um Cuxhaven, im Wahlkreis des einflussreichen niedersächsischen CDU-Fraktionsvorsitzenden David McAllister.
In der zum Bersten gefüllten Stadthalle des Nordseebades Otterndorf protestierten Anfang des Monats rund 700 Küstenbewohner gegen die zusätzliche Deichbelastung durch Hamburgs Elbvertiefungspläne. "Eindrucksvoller lässt sich Protest nicht darstellen," notierte die ortskundige "Niederelbe-Zeitung".
Nicht nur die anstehende sechste Elbvertiefung zugunsten der stetig wachsenden Container-Riesen weckt die Ängste der Anrainer, deren Landstrich in der Vergangenheit immer wieder mal von Sturmfluten heimgesucht worden ist auch die Versäumnisse der niedersächsischen Küstenschützer lassen den Zorn wachsen.
Mitten im Deich ein Schildbürgerstreich
Schon seit langem ist der Regierung eine absurde Schwachstelle bekannt: Eine Kanalschleuse bildet die flachste Stelle im gesamten dortigen Verlauf des Elbdeichs. "Links und rechts der Schleuse ist der Deich rund 150 Zentimeter höher," weist Torsten Heitzsch, Geschäftsführer des örtlichen Deich- und Uferbauverbandes, immer wieder auf den Schildbürgerstreich hin doch nichts passiert.
Und letzte Woche, als im Tiefland nahebei, das ständig künstlich entwässert werden muss, eine betagte Hauptpumpe mit einer Förderkapazität von 7000 Litern je Sekunde plötzlich versagte, wuchs der Unmut. Für eine bereits vor zwei Jahren beantragte neue Pumpe hatte das Land dem Unterhaltungsverband die Bewilligung versagt.
Den Fachleuten in Behörden und Verbänden sind die alten und neuen Küstenschutz-Defizite, natürlich, vertraut. Die 28 norddeutschen Deichgrafen sowie Küstenschutzbeamten und -forscher, die im Zuge des KRIM-Projekts interviewt wurden, gehen beispielsweise mehrheitlich von einem Klimawandel aus. Und das Gros räumte in der anonymisierten Befragung auch die Existenz "lokaler bzw. technischer Risiken" für die Küste ein. Doch trotz dieser Einschätzung zeigen die Küstenschützer ein hohes Maß an Beharrungsvermögen.
"Veränderungs- oder Verbesserungswünsche", so die Studie, äußerte kaum einer. Dafür, so eine häufig vernommene Antwort, seien schließlich die Verwaltungsspitze und die Politik zuständig.
Angst vor Panik und Vertrauensverlust
Je höhergestellt und je politiknäher die Befragten waren, desto weniger zeigten sie sich auch bereit, auf Risiko-Szenarien einzugehen. Wahrscheinlich, so schreiben die Interviewer in ihrem Abschlussbericht, befürchteten diese Befragten, dass "mögliche Aussagen zu Folgen und Risiken von der Öffentlichkeit als bare Münze genommen werden und sowohl Panik als auch Vertrauensverlust in den Küstenschutz nach sich ziehen könnten".
Bedrückendes Fazit der KRIM-Forscher: "Die Frage danach, wie im Politikfeld Küstenschutz mit der Möglichkeit des Eintretens eines Extremereignisses einer neuen Größenordnung gegenwärtig umgegangen wird, kann einfach beantwortet werden: Gar nicht, da die politischen Vorgaben im Küstenschutz derzeit nicht auf Szenarioannahmen basieren können."
Dabei hatte die Strategie der Küstenschützer, vorwiegend mit den Messwerten von gestern Sicherheit für morgen zu produzieren, immer wieder dramatisch versagt.
So legte Niedersachsen zwei Jahre nach der Hollandflut des Jahres 1953 ein auf zehn Jahre bemessenes Küstenschutzprogramm auf, das auf einem Sturmflutwasserstand von 5,40 Metern über Normal Null basierte. Der Plan war Makulatur, bevor er umgesetzt war: Schon bei der Sturmflut 1962, die in Hamburg und anderswo mehr als 340 Todesopfer forderte, lief das Wasser bis zu sechs Metern über Null auf.
"Das 100-jährige Ereignis hilft nicht mehr"
Fortan galten an der Nordsee die Hochwassermarken der Hamburger Schicksalsflut als Basis für die Berechnung der "Bemessungswasserstände". Doch auch diese Formel taugte nicht lange. Extremwasserstände und Orkanfluten setzten immer wieder neue Höchstmarken - 1975, 1976, 1981, 1990, 1992 und so fort.
Meteorologen wie Professor Graßl halten seit langem eine Ausrichtung des Küstenschutzes an Jahrhundertfluten für überholt. "Das 100-jährige Ereignis," predigt er, "hilft uns nicht mehr. Das hat ja als Voraussetzung stabiles Klima."
Doch obwohl sich der Meeresspiegelanstieg weiterhin beschleunigt, beharren die meisten Küstenschützer noch immer stolz darauf, Sicherheit mit Hilfe von Pegelwerten exakt "messen" zu können während die Klimaforscher doch nur über "kalkulierte" Risikodaten verfügten.
Logische Folge, so der KRIM-Befund über die Qualität der "politisch-administrativen Steuerungsprozesse" im Küstenschutz: "Solange eine Sturmflut nicht tatsächlich höher aufläuft als je zuvor, wird demnach ein business as usual als gerechtfertigt angesehen."