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Vorlese-Marathon Bandwurmwort füllt dreieinhalbstündiges Video

Ein Russe liest das angeblich längste Wort in englischer Sprache - die Aminosäureabfolge eines Proteins. Er braucht dafür 3,5 Stunden. Ob der vorgetragene Fachbegriff allerdings als Wort gilt, darüber lässt sich streiten.

Hamburg - Die Deutschsprechenden  gelten als Spezialisten für lange Wörter: Man kann sich auf dem Amt mit der Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung herumschlagen. In Österreich schipperten auch Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitäne über den Fluss, als es die Erste Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft noch gab. Zwar sind in den Behörden - hoffentlich - Grundstücksverkehrsgenehmigungs-zuständigkeitsübertragungsverordnungsexperten am Werk und es lässt sich auch mutmaßen, dass eine Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänsmütze als passende Kopfbedeckung für die Flussschiffer existierte.

Aber nach einer Weile kommen diese Bandwurmwörter zum unweigerlichen Ende. Schließlich geht einem ja irgendwann die Luft aus. Außerdem ist zu vermuten, dass das Gegenüber bei solchen Wortmonstern den roten Faden verliert.

Während derart zusammengesetzte Wörter also kaum in den dreistelligen Buchstabenbereich vordringen, hat das angeblich längste Wort in der englischen Sprache, das ein Russe in einem Video  vorträgt, knapp 190.000 Buchstaben. Anders gesagt: Es ist abendfüllend. Rund dreieinhalb Stunden liest Dmitry Golubovskiy, Chefredakteur des russischen Männermagazins "Esquire"; warum er sich das antut, wird leider nicht erklärt: "Methionylthreonylthreonyl-glutaminylarginyltyrosylglutamylserylleucyl…" - und so geht es immer weiter.

Oder einfach: Titin

Nun ja, ob das als Wort gilt, darüber lässt sich streiten. Es handelt sich um die Aminosäurenabfolge eines Proteins, das mit einem sehr kurzen Namen auskommt: Titin. Fünf Buchstaben - schnell gesagt, schnell geschrieben, schnell gelesen.

Titin ist ein Bestandteil der Muskulatur von Wirbeltieren. Ein einzelnes Titin-Molekül kann in seinem natürlichen Zustand 1,3 Mikrometer lang sein. Es ist das größte bekannte Protein - und daher ist seine Aminosäuresequenz eben auch ein sehr, sehr, sehr langer Fachbegriff.

Es existieren eine Vielzahl von Titin-Varianten. Das entsprechende Gen beim Menschen zeigt, dass das Protein theoretisch aus gut 38.000 einzelnen Aminosäuren bestehen kann. Allerdings sind die bisher im Körper entdeckten Varianten kürzer. Bei der Übersetzung der Erbgutsequenz ins Protein werden Teile herausgeschnitten.

Die Variante im menschlichen Herzmuskel besteht aus rund 27.000 Aminosäuren, erklärt Wolfgang Linke von der Ruhr-Universität Bochum. Wahrscheinlich trägt der russische Vorleser dessen Aminosäuresequenz  vor. Linke und sein Team in der Abteilung für kardiovaskuläre Physiologie forschen an dieser Isoform.

Titin besitzt sehr elastische Bereiche. Doch ein Teil davon ist bei der Herzmuskel-Variante herausgeschnitten. Durch Mutationen oder biochemische Veränderungen kann das Protein zu steif werden, der Betroffene leidet dann an einer Herzmuskelschwäche. Auch bei der sogenannten diastolischen Herzinsuffizienz, bei der sich das Herz nicht mehr optimal mit Blut füllt, kann Titin eine Rolle spielen, erklärt Linke. Es läuft bereits eine klinische Studie, bei der ein Medikament das Protein wieder locker machen soll. Der untersuchte Wirkstoff: Sildenafil, besser bekannt als Viagra.

Aber zurück zu dem Film mit dem längsten Wort. Zumindest als längster Fachbegriff im Englischen geht die Titin-Sequenz durch. Wobei die Vokabel noch deutlich länger sein könnte, würde sich jemand die Mühe machen und eine der längeren Isoformen so abbilden.

Das längste Wort, das im Oxford Dictionary  steht, ist aber deutlich kürzer: Die Bezeichnung der Lungenkrankheit Pneumonoultramicroscopicsilicovolcanoconiosis hat gerade einmal 45 Buchstaben. Chemischen Formeln, DNA-Sequenzen und in diesem Sinne auch Aminosäuresequenzen gibt das britische Standardwerk dagegen eine Abfuhr: "Wir tendieren dazu, sie nicht als richtige Wörter anzusehen."

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels stand eine falsche Angabe zur Masse des Proteins Titins. Tatsächlich liegt sie im Bereich von 3 bis 3,7 Megadalton, was etwa der Masse von 300.000 Kohlenstoffatomen entspricht.

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