Lebenslange Fürsorge Neandertaler waren Krankenpfleger

Im Allgemeinen traut man dem Neandertaler nicht viel Einfühlungsvermögen zu. Doch weit gefehlt. Mitunter pflegten die Verwandten des Menschen kranke Angehörige über Jahrzehnte.
Narben, Risse, Deformationen: Shanidar 1 hätte seine Verletzungen allein nicht überleben können

Narben, Risse, Deformationen: Shanidar 1 hätte seine Verletzungen allein nicht überleben können

Foto: Erik Trinkaus

Shanidar 1 hatte kein leichtes Leben. Was auch immer ihm als Kind passierte, es verkrüppelte seinen Körper. Sie nahmen ihm einen wohl nutzlos gewordenen Unterarm ab, er humpelte, war wohl sehbehindert, trug zahlreiche weitere Verletzungen davon. Schädel- und Gesichtsknochen brachen, und auch seine weitere, auf die Verletzungen folgende Entwicklung verlief nicht normal. Shanidar blieb schwach, mehrfach behindert und wohl auch weitgehend, wenn nicht völlig taub, wie Forscher nun im Fachblatt PLOS One berichten .

In der Welt des Pleistozän, in der der Mensch bei mehreren Vertretern der Megafauna noch auf der Speisekarte stand, waren das nicht unbedingt gute Bedingungen für ein Überleben.

Das verblüffende an Shanidar ist jedoch, dass er erst im Alter von über 40 Jahren starb. Vor 50.000 Jahren dürfte er damit im Irak, wo man seine Überreste fand, als Greis gegolten haben. Dafür, dass er so alt werden konnte, finden Forscher nur eine Erklärung: Sein Clan, seine Familie, seine Gruppe muss sich lebenslang um ihn gekümmert haben. Ihn mit Nahrung versorgt, gepflegt, beim Transport geholfen haben. Das entspricht nicht unbedingt dem Bild, das noch immer viele vom vermeintlich primitiven Neandertaler haben.

Zahlreiche Funde dokumentieren die Fürsorglichkeit des Neandertalers

Forscher wissen das besser: Sie wissen, dass Neandertaler nicht nur Verletzte pflegten, sondern sich auch um körperlich und geistig Behinderte in ihrer Mitte kümmerten. Zahlreiche Funde dokumentieren ihre Fürsorglichkeit gegenüber allen Mitgliedern ihrer Gruppe - oft bis zum unvermeidlichen Ende.

Knochenwucherungen im Gehörgang: Shanidar 1 war taub

Knochenwucherungen im Gehörgang: Shanidar 1 war taub

Foto: Erik Trinkaus

So stellten Wissenschaftler 2009 eine Studie über einen Schädelfund aus der Ausgrabungsstätte Sima de los Huesos in der nordspanischen Sierra de Atapuerca vor, die das eindrücklich illustrierte: Der Cranium 14 genannte, dort gefundene Schädel eines Kindes zeigte deutliche Missbildungen, die sowohl auf sichtbare Deformationen, als auch mit hoher Wahrscheinlichkeit auf geistige Einschränkungen hinwies - und, ähnlich wie bei Shanidar, einen weitgehenden Hörverlust.

Es ist nur einer von mehreren Neandertalern, die Missgestaltungen oder Knochen-Deformationen im Schädelbereich zeigten und doch von ihrer Gemeinschaft unterstützt wurden.

Auch die Gemeinschaft von Sima de los Huesos betreute das Kind "Cranium 14" bis zu seinem Tod - nicht der einzige Hinweis darauf, dass die archaische Menschengruppe der Neandertaler offenbar bedingungslose Inklusion lebte.

Tiefe Menschlichkeit

Auch im Fall von Shanidar 1, dessen Überreste schon 1957 im kurdischen Teil des Irak gefunden wurden, erkennt Studien-Mitautor Erik Trinkaus vor allem eines: Die "tiefe Menschlichkeit dieser oft geschmähten, archaischen Menschen".

Trinkaus und sein Co-Autor Sébastien Villotte unterzogen Shanidar 1 nun neuen, vertiefenden Untersuchungen mit modernen Methoden . Sie entdeckten dabei knöcherne Wucherungen in den Gehörgängen des Schädels, die auf eine sehr weitgehende, möglicherweise völlige Ertaubung hindeuten.

In Zeiten, in denen abendliche Spaziergänge nicht nur dank Nashörnern, Elefanten und Büffeln, sondern auch dank 190-Kilogramm schwerer Säbelzahnkatzen, 360-Kilo-Löwen, 800-Kilogramm-Bären und Hyänen von Löwengröße einen ganz besonderen Nervenkitzel geboten haben dürften, war das Überleben mit sensorischen Einschränkungen ohne Hilfe wohl so gut wie unmöglich.

Doch Neandertaler kümmerten sich eben um Kranke und körperlich Eingeschränkte - möglicherweise war das ein Teil ihrer Kultur, vom Mittleren Osten bis nach Spanien.

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