
Fund an der Liverpool Street: Klinge, Schädel, Münzen
Klingenfunde Archäologen entdecken Steinzeitwerkstatt mitten in London
Das Mesolithikum war in Großbritannien eine gute Zeit. Die Gletscher der Eiszeit hatten sich zurückgezogen und Platz gemacht für dichte Wälder mit Elchen, Rot- und Schwarzwild. Zwischen England und dem Kontinent lag noch keine Wasserstraße, sondern ein fruchtbares Gebiet namens Doggerland. Weit verzweigte Flussläufe voller Fische zogen sich durch blühende Wiesen und Schilfgürtel, in denen Unmengen von Wasservögeln brüteten. Herden von Auerochsen kamen an die Ufer, um ihren Durst zu stillen.
Inmitten dieser Idylle schlug vor 9000 Jahren eine Gruppe Menschen ihr Lager am Ufer eines Flusslaufs auf, dessen Nachfolger viele Jahrtausende später "Themse" genannt werden sollte. Sie wählten im flachen Wasser die besten Steine aus, und machten sich an die Arbeit: Werkzeuge und Waffen daraus herzustellen. Laut hallte ihr Hämmern von Stein auf Stein über den Fluss und ließ die Wildtiere aufhorchen.
Heute wäre an genau dieser Stelle der prähistorische Lärm kaum zu hören gewesen zwischen dem Hupen der Autos und dem Röhren der Baumaschinen. Denn dort, wo die Gruppe aus dem Mesolithikum lagerte, verläuft heute die Liverpool Street im Londoner Stadtteil Newham.
Rund 150 Stück Flint - darunter auch ganze Klingen - entdeckte ein Archäologenteam unter der Leitung von Jay Carver. "Dies ist ein einzigartiger und aufregender Fund, der zeigt, dass nach der langen Besiedlungspause während der Eiszeit die Menschen wieder nach England, und insbesondere ins Tal der Themse, zurückkehrten", sagt der Grabungsleiter in einer Presseerklärung. "Es ist eine von nur einer Handvoll Stätten, die belegen, dass in dieser Zeit Menschen hier lebten."
Offenbar hatte der Fluss an dieser Stelle besonders viele gut geeignete Steine abgelagert. "Die Konzentration der Flintstücke zeigt, dass dies ein besonders wichtiger Ort war, um passendes Material für die Werkzeugherstellung auszusuchen", erklärt Carver.
Er glaubt, dass die frühen Londoner hier in einer Art Werkstatt die Steine testeten, aufspalteten und verarbeiteten - eine mittelsteinzeitliche Werkzeug- und Waffenschmiede. Im Mesolithikum erfanden die Menschen neue Formen für ihre Jagdwerkzeuge: Sie versahen die Waffen mit Haken, so dass sie im Fleisch der Beutetiere stecken blieben. An Harpunen und Speeren befestigten sie winzige Klingen, sogenannte Mikrolithen.
Nicht die erste Sensation
Bald wird es dort, wo die mittelsteinzeitlichen Handwerker experimentierten, noch lauter werden. Ab 2018 rauschen dann dicht getaktet die Waggons der neuen Crossrail-Linie vorbei. Die 118 Kilometer lange Verbindung soll Maidenhead im Westen Londons mit Shenfield im Osten und Abbey Road im Südosten verbinden.
Ein gigantisches Vorhaben: Knapp 27 Milliarden Euro kostet das größte Bau- und gleichzeitig ambitionierteste Archäologieprojekt Londons seit Jahrzehnten. Mehr als 20 Kilometer der Strecke verlaufen unterirdisch - mitten durch die ältesten, am dichtesten besiedelten Areale der Stadt. Seit vier Jahren arbeitet ein Heer von mehr als hundert Archäologen auf mehr als 40 Grabungen im Auftrag von Crossrail daran, die historischen und prähistorischen Funde zu bergen, bevor die Bagger kommen.
Bevor sie auf die mittelsteinzeitliche Werkstatt stießen, entdeckten Carver und sein Team bereits eine römische Straße, in deren Fundament ein menschlicher Knochen steckte. Doch die Römer hatten das Stück nicht etwa dort eingearbeitet. Schuld war der Walbrook, ein unterirdischer Flusslauf, der den Knochen aus einem nahen römischen Friedhof ausgespült und unter der Straße wieder abgelegt hatte.
Auch ein Hufeisen entdeckten sie auf der Straße - oder vielmehr eine Hufsandale. Denn das Eisen wurde in römischer Zeit nicht an den Huf genagelt, sondern mit Lederriemen umgebunden. Zu den wertvollsten Funden des Teams gehört eine goldene Münze aus dem 16. Jahrhundert. Sie ist durchbohrt und wurde wahrscheinlich von einem Aristokraten als Schmuck oder Amulett getragen.
Und die Arbeit unter der Liverpool Street ist noch lange nicht zu Ende. Als nächstes steht der Friedhof des Bethlem Royal Hospital zur Ausgrabung an. In der auch als Bedlam bekannten Klinik waren vom 14. bis zum 17. Jahrhundert psychisch Kranke unter grauenerregenden Bedingungen untergebracht. "Wir werden mit der Ausgrabung des Friedhofes im nächsten Jahr beginnen und bis zu 3000 Skelette sorgfältig bergen", plant Carver.
Auch bei anderen Crossrail-Grabungen an weiteren Standorten in London wurde man fündig. Die Bandbreite der Funde reicht von 68.000 Jahre alten Rentier-, Bison- und Mammutknochen über die Fundamente eines Hauses der Tudor-Zeit mit eigenem Burggraben und mittelalterlichen Schlittschuhen bis hin zu einer Schiffswerft aus dem 18. Jahrhundert. Erst vor wenigen Monaten fand ein Team Skelette von Opfern des Schwarzen Todes - jener Pestepidemie, die im Jahr 1348 die Hälfte der Londoner Bevölkerung ausgelöschte.