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Russland: Forschen ohne Mittel

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Marode Forschung in Russland Exodus des Wissens

Die Physik-Nobelpreisträger 2010 stammen aus Russland - leben und forschen aber in England. Ihre Heimat feiert die Auszeichnung als Triumph vaterländischen Forscherdrangs, doch in Wahrheit zeigt der Fall exemplarisch die Misere der russischen Wissenschaft.
Von Maxim Kireev

Manchmal siegt sie noch heute, die alte Sowjetunion. So erfährt man es zumindest aus den russischen Staatsmedien, wenn es um die Auszeichnung der Physik-Nobelpreisträger Andre Geim und Konstantin Novoselov geht.

Die Ehrung für die Erforschung des Supraleiters Graphen sei ein "Sieg der russischen Wissenschaftsschule", sagte der Nachrichtensprecher des staatlichen "Ersten Kanals" feierlich. Es war das Topthema: die höchste wissenschaftliche Ehrung für zwei Absolventen des Moskauer physikalisch-technischen Instituts.

Dabei steht das Schicksal der beiden in Wahrheit nicht exemplarisch für die Größe der vaterländischen Wissenschaft - sondern für ihre größten Probleme, für die Gründe des rapiden Absturzes der einstmals exzellenten sowjetischen Forschung.

Allein in den neunziger Jahren verließen in einer beispiellosen Auswanderungswelle etwa 100.000 Wissenschaftler das Land, meistens Richtung Westen - USA, Israel, Großbritannien. Auch Deutschland profitierte von der Auswanderungswelle. Tausende von Tüftlern aus Russland und ehemaligen Sowjetrepubliken sind heute zwischen Bremen und München in der Forschung tätig.

Im Silicon Valley arbeiten Schätzungen zufolge rund 20.000 Wissenschaftler aus der ehemaligen UdSSR. Der russische Nobelpreisträger Alexej Abrikossow, der 2003 für seine Forschungen im Bereich Supraleiter den Physik-Nobelpreis bekam, lebt seit 1991 in Chicago. Und so schlossen sich auch die jüngst ausgezeichneten Physiker Geim und Novoselov dem Exodus an. In den neunziger Jahren packten sie ihre Koffer.

Wissenschaftliches Nomadenleben

Geim begann bald nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltreichs ein wissenschaftliches Nomadenleben. Anfang der neunziger Jahre zog er nach Dänemark, später in die Niederlande, deren Staatsbürgerschaft der 51-Jährige noch heute besitzt, und später nach Manchester.

Novoselov, heute 36, geboren im Gebiet Swerdlowsk im Ural, verließ 1999 seine russische Heimat. An der niederländischen Radboud Universiteit Nijmegen promovierte er. Dann ging auch er nach Manchester.

Dort setzten sie in Geims Labor die Untersuchungen an jenem geheimnisvollen Material fort, dass zuvor in einem kleinen Städtchen bei Moskau zum ersten Mal hergestellt worden war: am Institut für Mikro-Elektronik in Tschernogolowka, Novoselovs letztem russischen Arbeitgeber. Es ist eine von Dutzenden Akademiker-Siedlungen, die sowjetische Planer einst überall im Land aus dem Boden stampften, von denen heute jedoch allein das Akadem-Gorodok bei Nowosibirsk weltweit mithalten kann. Dort lassen sogar US-Konzerne wie Intel und Microsoft forschen.

Die Hirnflucht ist kaum aufzuhalten

Es fehlt an Geld und Perspektiven. Noch immer verdienen Forscher im Schnitt nicht einmal tausend Euro, klagte jüngst Juri Osipow, Chef der Russischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1991 hat sich die Zahl von Wissenschaftlern mehr als halbiert, auf nun noch 700.000 Forscher meist älteren Semesters.

Jahrelang schaute der russische Staat dem Problem hilflos zu. Doch Russlands Präsident Dmitrij Medwedew hat ambitionierte Pläne für die Modernisierung Russlands verkündet und will Innovationen fördern.

Im Moskauer Vorort Skolkowo will der Herr des Kreml im Eiltempo ein Forschungszentrum aus dem Boden stampfen, eine Art russisches Silicon Valley. "Eine der wichtigsten Aufgaben ist, die Wissenschaftler, die heute im Ausland arbeiten, wieder zurückzuholen", fordert Medwedew.

Medwedews Mann dafür heißt Wiktor Wekselberg, er ist ein milliardenschwerer Oligarch. Er hat den Spitznamen "Titan- und Aluminium-König". Seit Frühjahr 2010 ist er auch Vorsitzender des Skolkowo-Fonds. "Wir schaffen einen Puffer, eine Barriere für das Braindrain aus Russland", verspricht der Oligarch.

Steuererleichterungen, Zollbefreiung, nagelneue Labors und Ausrüstung und staatliche Fördergelder sollen internationale Hightech-Konzerne und Forscher von Weltrang vor die Tore Moskaus locken. Sie sollen helfen, Russlands Wirtschaft unabhängiger zu machen von Öl- und Gasexporten. "Wir müssen dort die Bedingungen für ein interessantes Leben und Arbeiten der Spezialisten in Russland schaffen", sagt der Skolkowo-Chef.

Ausländische Spitzenforscher, vorzugsweise einst abgewanderte Russen, sollen binnen vier Jahren jährlich mindestens zwei Monate lang in Russland an Projekten arbeiten und russische Wissenschaftler anleiten. Zwei Milliarden Euro hat der Staat für Löhne, Unterkunft und Ausrüstung bereitgestellt.

Hoffnung auf die Rückwandererwelle

120 Wissenschaftler hat das Programm schon angelockt, darunter Alexey Ustinov, Physik-Professor an der Universität Karlsruhe. "Die Lebensbedingungen eines Spezialisten meines Ranges sind nicht vergleichbar zwischen Deutschland und Russland", sagt Ustinov. Wenn junge Wissenschaftler mehr Geld hätten, würden mehr bleiben, glaubt er. Eine Lawine an Rückwanderern, wie sie Bildungsminister Fursenko versprach, blieb allerdings aus.

Dass es den meisten nicht nur um die Bezahlung geht, schrieben russische Wissenschaftler vor einem Jahr in einem offenen Brief an Präsident Medwedew und Premier Putin. Dort beklagten sie den "katastrophalen Zustand" der russischen Wissenschaft, die "akute Auflösungserscheinungen zeigt", und mahnten tiefgreifende Reformen an. Neben mehr Geld seien zu allererst die Arbeitsbedingungen vonnöten, und Russlands überalterte Wissenschaft müsse sich viel stärker als bisher in die weltweite Forschungsgemeinschaft integrieren. Das Schreiben unterzeichneten mehr als 300 zum Teil hochrangige Koryphäen - allesamt Russen, die heute im Ausland forschen.

"Es liegt nicht nur am Geld", sagt auch Nobelpreisträger Novoselov. Zwar sei die Ausbildung in Russland "die beste der Welt" und habe ihm "unendlich geholfen". In England aber sei die Arbeit "viel einfacher organisiert und transparenter". Auf die Frage nach einer Rückkehr stutzt er. "Vielleicht wenn... nein, wahrscheinlich nicht".

Auch Kollege Geim will nicht zurückkehren. Nicht an das Institut in Tschernogolowka, und auch nicht in Russlands neues Silicon Valley Skolkowo. "Ich habe keinen russischen Pass", sagt Geim. "Ich bin Bürger der Niederlande."

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