Massentierhaltung in Deutschland "Beim Tierschutz geht es zu langsam voran"

Schweine in einem Zuchtbetrieb in Hessen (Archiv)
Foto: Frank May/ picture alliance / Frank May/dpaMastputen, die mit ihrer riesig gezüchteten Brust nicht mehr aufrecht gehen können. Festgekettete Rinder. Apathisch wirkende Schweine auf kargem Gitterboden. Immer wieder veröffentlichen Tierschutzorganisationen Videos, die ein düsteres Bild von der Nutztierhaltung in Deutschland zeichnen. Überzüchtet, vollgepumpt mit Medikamenten und eingepfercht auf engstem Raum, führen Nutztiere ein elendes Dasein - so das gängige Bild.
Gleichzeitig werben Parteien seit Jahren mit dem Thema Tierschutz, derzeit beispielsweise in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl am 24. September. Die Regierungspartei CDU verkündet , Tierschutz sei ihr ein wichtiges Anliegen, denn "Tiere sind unsere Mitgeschöpfe". Der Koalitionspartner SPD verspricht, die Würde der Tiere besser schützen zu wollen. Selbst bei der liberalen FDP hat es das Wort "Tierschutz" ins Wahlprogramm geschafft.
Wie passt das zu den Bildern aus deutschen Ställen? Nicole Kemper von der Tierärztlichen Hochschule Hannover sagt, dass sich in der Landwirtschaft noch viel tun muss, warnt jedoch vor einfachen Lösungen.

Die Tiermedizinerin Nicole Kemper ist Leiterin des Instituts für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Sie setzt sich für das Wohl der Nutztiere in Deutschland ein und erforscht, was diese für ein artgerechtes Leben brauchen.
SPIEGEL ONLINE: Glaubt man den Wahlprogrammen, haben Nutztiere eine große Lobby in Deutschland. Hat sich in den vergangenen Jahren etwas verbessert?
Nicole Kemper: Natürlich schreiben die meisten Parteien das Thema vor allem in ihr Wahlprogramm, weil sie wissen, dass es viele Menschen beschäftigt. Dahinter steht gesellschaftlicher Druck. Viele Menschen wollen wissen, wo ihr Fleisch herkommt und wie es hergestellt wird. Das zeigt auch in den Ställen Wirkung.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?
Kemper: Den größten Fortschritt gibt es wohl bei den Hühnern. Sie dürfen seit 2009 in Deutschland und seit 2012 EU-weit nicht mehr in Legebatterien gehalten werden. Außerdem muss es in ihren Ställen Sitzstangen, Nester und einen Scharrbereich geben. Aber auch bei Schweinen und Rindern tut sich etwas: Tragende Sauen wurden früher häufig einzeln in sogenannten Kastenständen gehalten. Das ist seit 2013 verboten. Sie müssen Bewegungsfreiheit haben und Kontakt zu Artgenossen. Über ein Verbot, Rinder im Winter angebunden im Stall zu halten, wird zumindest diskutiert.
SPIEGEL ONLINE: Nach großer Revolution klingt das nicht.
Kemper: Bei dem Thema geht es sicher zu langsam voran. Das liegt aber nicht daran, dass die Landwirte nichts ändern wollen. Es gibt zwar auch Landwirte, denen ihr Vieh egal ist, solange es Ertrag bringt. Umso leichter entstehen dann die Videoaufnahmen, die die ganze Branche in Verruf bringen. Aber viele haben die Zeichen der Zeit erkannt. Sie wissen, dass sie etwas tun müssen. Das Problem ist, dass es keine einfachen Lösungen gibt und Verbote allein nicht helfen.
SPIEGEL ONLINE: Die meisten Parteien setzen sich dafür ein, dass Schweinen nicht mehr die Schwänze amputiert werden. Ist das ein sinnvolles Vorhaben?
Kemper: Das Verbot gibt es bereits, allerdings haben viele Betriebe Ausnahmegenehmigungen. Diese zu reduzieren, ist richtig, denn das Schwanzkürzen ist aus medizinischer Sicht unnötig. Die Landwirte machen es trotzdem nicht ohne Grund. Aus Beschäftigungsmangel beißen sich Schweine gegenseitig - auch in den Schwanz. Nur das Kürzen zu verbieten, macht Schweinen das Leben also nicht angenehmer. Man muss gleichzeitig etwas an den Lebensbedingungen verändern, und das geht nur, wenn man den Landwirt einbezieht. Veränderungen im Stall kosten Geld, deshalb muss eine Lösung gefunden werden, die auch wirtschaftlich realistisch ist.
SPIEGEL ONLINE: Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Kemper: Wenn Schweine frei leben, wühlen sie den Großteil des Tages im Boden und suchen nach Nahrung. In modernen Ställen mit Spaltenböden kann man aber nicht einfach Wühlerde oder Heu auf dem Boden verteilen, weil das die Abflusskanäle verstopft. Einige Landwirte lösen das Problem beispielsweise, indem sie einen Teilbereich im Stall mit geschlossenem Boden einrichten, den die Schweine nach Bedarf nutzen können.
SPIEGEL ONLINE: Und das hält sie vom Kannibalismus ab?
Kemper: Das kommt drauf an. Letztlich spielen viele Faktoren eine Rolle, etwa die Zusammensetzung der Gruppe, das Futter oder das Platzangebot. Manche Landwirte haben ein gutes Gespür für ihre Tiere. Manchmal funktioniert es auch ein paar Durchgänge, und dann beißen sich die Schweine doch wieder. Davor schützt übrigens auch der Biolandbau nicht zwingend. Zwar haben die Tiere da grundsätzlich bessere Voraussetzungen, weil es mehr Platz gibt. Es kann aber trotzdem sein, dass sie in einer Gruppe nicht miteinander auskommen.
SPIEGEL ONLINE: Hühnern werden die Schnäbel gekürzt, damit sie sich nicht gegenseitig blutig hacken. Ist da ein Verbot sinnvoll?
Kemper: Der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft hat sich freiwillig verpflichtet, darauf zu verzichten. In Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist das Schnabelkürzen bereits seit Ende 2016 verboten. Die Betriebe dort können sich beim Landwirtschaftsministerium Hilfe holen. Grundsätzlich gilt das gleiche Prinzip wie bei den Schweinen: Damit Hühner nicht zu Kannibalen werden, müssen sie die Möglichkeit haben, am Boden zu picken, sie brauchen passende Artgenossen und das richtige Futter.
SPIEGEL ONLINE: In der konventionellen Landwirtschaft setzen Bauern gegen Krankheiten oft Antibiotika ein. Hat sich da etwas verbessert?
Kemper: Tatsächlich wurden die Mittel lange in viel zu großen Mengen verabreicht. Laut Gesetz dürfen die Tiere nur Medikamente bekommen, wenn es medizinisch notwendig ist. Inzwischen müssen die Landwirte ihren Antibiotikaeinsatz melden. Ist der Verbrauch zu hoch, folgen teils strikte Auflagen. Die Angst vor Kontrolle kann aber auch dazu führen, dass zum Teil kranke Tiere keine Medikamente bekommen, die sie bräuchten.
SPIEGEL ONLINE: Woher weiß man das?
Kemper: Die Schlachthöfe sind eine gute Kontrollinstanz. Hier werden die Tiere von amtlichen Tierärzten und Fachassistenten untersucht, da nur gesunde Exemplare vermarktet werden dürfen. So lassen sich beispielsweise Lungenentzündungen bei Schweinen feststellen, die auf schlechte Haltungsbedingungen oder auch mangelnde Behandlung zurückzuführen sind. Auch beim Geflügel kann man am Schlachthof viel über die Haltungsbedingungen erfahren: Hühnerfüße werden beispielsweise automatisiert über Kameras auf schwarze Flecken untersucht, die auf Entzündungen hinweisen. Diese können entstehen, wenn die Einstreu zu feucht war.
SPIEGEL ONLINE: Die AfD will das Schächten verbieten . Dient das dem Tierwohl?
Kemper: Beim Schächten werden den Tieren mit einem Messer die großen Blutgefäße sowie Luft- und Speiseröhre durchgeschnitten, oft ohne vorherige Betäubung. Darum forderte auch die Bundestierärztekammer 2007 ein Verbot der religiös motivierten betäubungslosen Schlachtung. Es ist aber eine gesellschaftspolitische und auch verfassungsrechtliche Frage, ob das Tierwohl höher bewertet wird als das Recht auf die Ausübung religiöser Praktiken. Eine Lösung wäre das Schächten nach vorheriger Betäubung. Das wird je nach Glaubensgemeinschaft kontrovers diskutiert.
SPIEGEL ONLINE: Herkömmliche Schlachter haben auch nicht den besten Ruf. Wie schlimm ist der Tod für die Tiere dort?
Kemper: Das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die Tiere werden dort zunächst betäubt und dann zum Ausbluten aufgeschnitten. Bei Schweinen verwenden die Schlachthöfe meist Kohlendioxid zum Betäuben. Es gibt Hinweise, dass die Tiere dabei kurz ein Erstickungsgefühl haben. Eine andere Möglichkeit ist die Elektrobetäubung. In jedem Fall muss gesichert sein, dass die Tiere nichts mehr spüren, wenn der Entblutungsschnitt gesetzt wird. Dazu müssen sie beobachtet und die Reflexe überprüft werden. Hier besteht teils noch Verbesserungsbedarf.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie sich etwas für die Nutztiere in Deutschland wünschen dürften - was wäre das?
Kemper: Schön wäre es, wenn endlich alle Betriebe bestehende Standards konsequent einhalten. Und ich wünsche mir, dass Nutztiere mit mehr Respekt betrachtet werden und nicht nur als Fleischproduzenten. Auch die Verbraucher sollten sich klarmachen, dass ihre Wurst mal ein Tier war. Sie sollten nicht nur nach dem Preis einkaufen.