Mathematik Russe könnte Jahrhundert-Problem gelöst haben

Ein russischer Wissenschaftler hat offenbar eines der sieben großen Rätsel der Mathematik gelöst: die Poincaré-Vermutung, an der sich Generationen von Rechenkünstlern die Zähne ausgebissen haben. Grigory Perelman könnte nun eine Million Dollar Preisgeld kassieren - aber er scheint nicht interessiert.
Von Annick Eimer

Was unterscheidet einen Fußball von einem Fahrradschlauch? Wer dieses so genannte Poincaré-Problem mathematisch schlüssig lösen kann, bekommt einen Haufen Geld. Die Frage gehört zu den sieben Millenniums-Fragen der Mathematik, für deren Beantwortung der Bostoner Geschäftsmann Landon Clay ein Preisgeld von jeweils einer Million Dollar ausgelobt hat. Voraussetzung für den Erhalt des Schecks ist, dass das Ergebnis in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wird und dann zwei Jahre lang den Überprüfungen von Fachleuten standhält.

Letztere Bedingung hat ein russischer Mathematiker annähernd erfüllt: Grigory Perelman von der Universität Sankt Petersburg hat Ende 2002 ein Rechenwerk veröffentlicht, von dem er später behauptete, es enthalte die Lösung des Poincaré-Problems. Allerdings stellte er die Gleichungen ins Internet, anstatt sie einem Fachblatt anzubieten. Dennoch versuchten Rechenkünstler, Perelmans Gleichungen zu widerlegen - bislang ohne Erfolg.

Beweis für dreidimensionalen Fall steht aus

Die Poincaré-Vermutung wurde 1904 vom französischen Physiker und Mathematiker Henri Poincaré aufgestellt. Experten umschreiben sie mit dem Vergleich einer Kugel mit einem so genannten Torus - einem ringförmigen Objekt wie etwa einem Fahrradschlauch oder einem Rettungsring. Umschlingt man eine Kugel mit einem Seil, könnte man es theoretisch so weit zusammenziehen, bis es aus nur noch einem Punkt besteht - ohne, dass es die Oberfläche der Kugel verlässt.

Bei einem Torus funktioniert das nicht. Schlingt man das Seil um einen Fahrradschlauch, wird man ihn allenfalls zerquetschen. Das Seil wird nie aus einem einzigen Punkt bestehen, sondern stets die Oberfläche des Torus verlassen. Der Ring unterscheidet sich deshalb aus mathematischer Sicht grundsätzlich von einer Kugel.

Für den konkreten Fall der zweidimensionalen Oberfläche eines dreidimensionalen Objekts hat Poincaré selbst seine Theorie anschaulich bewiesen - und die Vermutung aufgestellt, dass dies auch für Oberflächen höherer Dimensionen möglich sein müsste. Das wurde später fast durchgehend bestätigt - mit Ausnahme ausgerechnet der dreidimensionalen Oberflächen vierdimensionaler Objekte, was unter anderem neue Erkenntnisse über die Topologie des Universums ermöglichen könnte.

Jahrhundertfrage nebenbei beantwortet?

99 Jahre lang hatten sich Mathematiker an dem Problem die Zähne ausgebissen, ehe Perelman im November 2002 eine Beweiskette still und heimlich ins Internet stellte, die mit der Poincaré-Vermutung nur indirekt zu tun hatte. Erst nach einigen Wochen dämmerte seinen Kollegen, was sie da in digitaler Form vor sich sahen. Auf die Frage, ob es sein könne, dass er die Poincaré-Vermutung bewiesen habe, soll seine Antwort gelautet haben: "Das ist korrekt." Die Millennium-Frage hat das Mathe-Genie offenbar en passant gelöst. Es war lediglich ein kleiner Baustein, den er für seine Beweiskette benötigte.

Der Stanford-Mathematiker Keith Devlin sagte auf der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science, dass Perelmans Ergebnisse korrekt zu sein scheinen. Das Problem sei nur, dass der Russe sich weigere, mit irgendjemanden darüber zu sprechen. Die Veröffentlichung in einem Fachblatt bleibt der Mathematiker ebenfalls schuldig.

Russe lässt Kollegen ratlos zurück

Die Fachkollegen grübeln noch über die Beweisführung, während Perelman sich weiterhin im Sankt Petersburger Steklov-Institut verschanzt. Weltweit seien etwa zehn Spitzenkräfte damit beschäftigt, die Ergebnisse zu überprüfen und fehlende Elemente zu bearbeiten, sagte die Mathematikerin Ursula Hamenstädt von der Uni Bonn im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Es werde noch Monate dauern, bis man alles niedergeschrieben habe.

Warum Perelman seine Ergebnisse nicht dem üblichen Peer-Review-Verfahren eines Fachmagazins unterzieht, darüber könne man nur spekulieren: "Wenn man so ein Ergebnis veröffentlicht, dann steht die Behauptung 'ich habe etwas bewiesen'", so Hamenstädt.

Und Behauptungen aufzustellen scheint nicht dem Naturell des Russen zu entsprechen. Auch nicht, wenn es dabei um eine Million Dollar geht. "Das Geld scheint ihn nicht zu interessieren", sagt einer seiner Institutskollegen aus Sankt Petersburg. Der Kollege möchte seinen Namen nicht nennen, denn: "Grisha mag nicht, wenn man über ihn spricht."

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