Mathematische Vorhersage Wie eine Seuche die Welt überzieht

Globale Seuchen könnten künftig mit mathematischen Mitteln bekämpft werden. Deutsche Forscher haben ein Modell entwickelt, mit dem sich die weltweite Ausbreitung von Epidemien vorhersagen lässt. Am Beispiel der Lungenkrankheit Sars hat das Rechenwerk eine erstaunliche Präzision erreicht.

Wie gefährlich die Globalisierung ist, wissen Mediziner spätestens seit dem Frühjahr 2003. In Windeseile breitete sich die Lungenkrankheit Sars rund um den Globus aus. Von ihrem Ursprungsort, der nach Erkentnissen der Weltgesundheitsorganisation WHO in der südchinesischen Provinz Guangdong lag, brauchte die Krankheit nur wenige Wochen, um über Hongkong und Singapur bis nach Kanada zu gelangen. Selbst Alaska, Südafrika und Australien blieben nicht von der Seuche verschont. Mehr als 700 Menschen starben, über 8000 infizierten sich.

Mathematische Modelle, die bis dahin zur Vorhersage der Seuchen-Verbreitung benutzt wurden, versagten angesichts der Geschwindigkeit der Sars-Ausbreitung. Forscher des Göttinger Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung und der University of California in Santa Barbara könnten diesem Missstand nun ein Ende bereitet haben: Sie kombinierten Modelle zur Vorhersage lokaler Epidemien mit Daten, die den weltweiten Flugverkehr zu 95 Prozent abdecken - und erhielten ein Modell, das die Ausbreitung globaler Seuchen mit hoher Genauigkeit vorhersagen kann.

Überraschend große Übereinstimmung

Als sie ihr Rechenwerk nachträglich auf die Sars-Epidemie anwandten, stimmte die Prognose überraschend präzise mit dem tatsächlichen Verlauf überein, schreiben Lars Hufnagel, Theo Geisel und Dirk Brockmann im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences" (Nr. 101, S. 15124). Die Forscher schlagen auch eine Möglichkeit zur Eindämmung einer künftigen Pandemie vor, die zwar radikal, dafür wohl aber auch wirkungsvoll wäre: die Stilllegung großer Drehkreuze des Luftverkehrsnetzes.

Die großen Knotenpunkte wie London, New York und Frankfurt sind die Hauptverursacher einer schnellen weltweiten Verbreitung einer Seuche, glauben die Wissenschaftler - egal, wo die Epidemie ausgebrochen ist. Entscheidend ist auch nicht, wie viele Menschen von oder zu einem Flughafen reisen, sondern mit wie vielen Zielen der Airport verbunden ist. Auch die Wirksamkeit von Impfungen wird von dem Modell vorhergesagt.

"Die Prognose der Verbreitung der Pest im 14. Jahrhundert wäre recht einfach gewesen", sagt Theo Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Strömungsforschung, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Die Infizierten waren innerhalb von einer Woche tot und kamen in dieser Zeit nicht weit." Die Pest habe deshalb drei Jahre gebraucht, um von Sizilien über Mitteleuropa bis nach Norwegen zu gelangen.

Heute aber kann ein Mensch binnen weniger Tage Zehntausende Kilometer zurücklegen - und überall auf der Welt Menschen infizieren, ehe er selbst der Krankheit zum Opfer fällt. Das so genannte Diffusionsmodell, in dem sich Epidemien in Wellenfronten fortbewegen, greift nicht mehr.

95 Prozent des Flugverkehrs berücksichtigt

Die Forscher kombinierten deshalb Modelle zur Berechnung lokaler Epidemien mit den Daten von mehr als zwei Millionen Flügen pro Woche zwischen den 500 größten Flughäfen der Welt. In dem Modell, das etwa 95 Prozent des gesamten zivilen Flugverkehrs abdeckt, bewegen sich infizierte Individuen zwischen den Knotenpunkten dieses Flugnetzes und verbreiten so die Krankheit. Wie schnell und in welcher Form sie sich ausbreitet, hängt auch davon ab, wie ansteckend sie ist und wie groß Heilungschancen und Sterberaten sind - was im Fall von Sars gut dokumentiert war.

Entscheidend für eine präzise Vorhersage der Ausbreitung künftiger Seuchen ist deshalb, wie schnell die Wirkung des neuen Krankheitserregers erkannt wird. Ob dann eine so radikale Maßnahme wie die Stilllegung wichtiger Flughäfen ergriffen wird, hängt von der Gefährlichkeit des neuen Erregers ab - und dürfte dann in den betroffenen Ländern nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch hochgradig politische Kosten-Nutzen-Rechnung sein.

Die derzeit in Asien grassierende Geflügelgrippe etwa könnte sich genetisch mit menschlichen Grippeviren vermischen und ein von Medizinern schon seit langem gefürchtetes "Supervirus" bilden, das eine verheerende Pandemie auslösen könnte. Erste Schätzungen über die Folgen einer solchen Seuche liegen bereits auf dem Tisch: Die oberste US-Gesundheitsbehörde, das Department of Health and Human Services, ging in ihrem "Pandemieplan" im August von bis zu 207.000 Toten und Kosten zwischen 60 und 160 Milliarden Dollar allein in den USA aus.

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