Tücken der Statistik Denken Sie immer falsch positiv!

Medizinische Tests können verwirren: Mit 95-prozentiger Sicherheit entdecken sie einen gefährlichen Erreger. Aber die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich infiziert zu sein, liegt unter zehn Prozent. Was heißt das?
Blutproben im Test

Blutproben im Test

Foto: Jagadeesh Nv/ dpa

Scharlach grassiert immer wieder in Kindergruppen, so auch im Kindergarten, in den einer der Autoren dieses Textes seine Tochter bringt. Die bakterielle Infektionskrankheit ist hochansteckend und wird beim Sprechen, Husten und Niesen über Speicheltröpfchen übertragen. Da Scharlach mit Spätfolgen wie rheumatischen Entzündungen des Herzbeutels und der Herzklappen einhergehen kann, wird Scharlach zumeist mit Antibiotika behandelt.

Im vorliegenden Fall zeigte das Kind die typischen Symptome von Scharlach. Als wir bei der Anmeldung in der Arztpraxis unsere Vermutung auf Scharlach nannten, machte die Sprechstundenhilfe sogleich einen Streptokokken-Test mittels Rachenabstrich. Der Schnelltest zeigte keine Scharlachinfektion an, sodass wir mit unserer Tochter im Wartezimmer platznehmen konnten.

Hätte der Schnelltest hingegen positiv auf Scharlach reagiert, hätten wir von den anderen wartenden Patienten separiert auf die ärztliche Untersuchung warten sollen, um keine weiteren Kinder zu infizieren. Bei der folgenden Untersuchung zeigten sich die typischen Scharlachsymptome dann allerdings so deutlich, dass doch Scharlach diagnostiziert wurde. Womöglich hat die Tochter während der Wartezeit also weitere Kinder angesteckt. War das ein Einzelfall oder ist der zugrundeliegende Schnelltest nicht aussagekräftig?

Wie genau ist der Test?

Vor einigen Wochen haben wir hier schon festgestellt, dass die oft verwendete Trefferquote zur Beantwortung dieser Frage nicht besonders hilfreich ist. Stattdessen kommen die Begriffe Sensitivität und Spezifität ins Spiel.

Unter Sensitivität versteht man die Prognosegüte, mit der Schnelltests eine tatsächlich vorhandene Scharlachinfektion richtig anzeigen - die sogenannte richtig-positive Prognose. Im Gegensatz dazu versteht man unter Spezifität die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht vorhandene Scharlach-Infektion korrekt angezeigt wird - die sogenannte richtig-negative Prognose. Studien zeigen, dass bei den verwendeten Scharlachschnelltests in der Anwendung in der Praxis sowohl die Sensitivität als auch die Spezifität bei etwa 95 Prozent liegen.

Im vorliegenden Fall bedeutet eine Sensitivität von 95 Prozent, dass von 20 Kindern mit Scharlach im Schnitt 19 ein korrektes Testergebnis ("Scharlach liegt vor") erhalten. Eines wird aber die falsche Bewertung "kein Scharlach" erhalten. 19 Kinder würden also von den anderen wartenden Patienten separiert, um kein weiteres Kind anzustecken.

Ein Kind würde aber - wie in unserem Fall - ganz normal ins Wartezimmer geschickt und könnte dort weitere Kinder anstecken. Und ohne eine weitere ärztliche Untersuchung würde dieses eine Kind vermutlich auch nicht gegen Scharlach behandelt werden, sodass es Gefahr laufen könnte, Komplikationen davonzutragen.

Eine Spezifität von 95 Prozent bedeutet etwas anderes: Für 20 Kinder ohne Scharlach wird der Test im Mittel bei 19 angeben, dass kein Scharlach vorliegt. Ein Kind wird aber die vorläufige, falsche Diagnose erhalten, dass es Scharlach hat. Ohne weitere ärztliche Einschätzung könnte es im schlimmsten Fall eine unnötige Behandlung mit Antibiotika erhalten.

Die Höhe von Sensitivität und Spezifität spielt eine entscheidende Rolle in der schnellen Beurteilung der Krankheit des Kindes. Natürlich wünscht man sich Tests, bei denen sowohl die Spezifität als auch die Sensitivität hoch sind. Oft muss man sich bei der Auswahl von Tests aber für das eine oder das andere entscheiden.

Unerkannt infiziert

Aber welcher Wert ist dann wichtiger? Das hängt ganz von der Situation ab. In unserem Scharlach-Beispiel ist wohl die Sensitivität besonders wichtig, damit verhindert wird, dass tatsächlich kranke Kinder andere Patienten im Wartebereich anstecken. Da die Kinder anschließend sowieso gründlich vom Arzt untersucht werden, dürfte andererseits eine falsch-negative Prognose in der Regel kein Problem sein.

Regelrecht paradox geht es zu, wenn viele Menschen auf eine seltene Krankheit getestet werden. Stellen wir uns dazu vor, dass - etwa als Prophylaxemaßnahme bei einer Schuluntersuchung - an einem Morgen in den Schulen Schleswig-Holsteins ein Scharlachschnelltest bei Erstklässlern durchgeführt werden wird. Spezifität und Sensitivität sollen wieder bei je 95 Prozent liegen.

Von den 20.000 Schülern, die sich auf die Krankheit testen lassen, haben vielleicht lediglich 100 tatsächlich Scharlach. Was diese niedrige sogenannte Basisrate für Auswirkungen hat, lässt sich gut an folgendem Baumdiagramm nachvollziehen.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Von den insgesamt 1090 Schülern, die ein positives Testergebnis erhalten, haben also lediglich 95 tatsächlich Scharlach, also gerade einmal 8,7 Prozent! Fast 1000 kerngesunde Schüler würden also als vermeintlich erkrankt an Scharlach nach Hause geschickt.

Und hier wird es paradox: Der Test zeigt mit 95-prozentiger Sicherheit eine Infektion richtig an. Und trotzdem ist nicht einmal einer von zehn positiv Getesteten tatsächlich betroffen.

Selbst bei 99 Prozent Sensitivität und Spezifität - Werte, die eigentlich eine extrem hohe Güte des Tests anzeigen - läge der Anteil falsch-positiv getesteter Personen aufgrund der geringen Basisrate immer noch bei 66,8 Prozent.

Problem bei Screenings

In unserem Scharlach-Beispiel sind die Auswirkungen noch überschaubar; es würden lediglich viele Kinder einen freien Schultag haben und unnötigerweise den Arzt aufsuchen. Ein ganz ähnlicher Effekt tritt aber bei vielen Massenuntersuchungen von - zum Glück - seltenen Erkrankungen auf, etwa beim Mammografie-Screening auf Brustkrebs oder auch beim PSA-Test auf Prostatakrebs.

Mammografie-Screening: Falsch positiv?

Mammografie-Screening: Falsch positiv?

Foto: Angelika Warmuth/ dpa

Dabei ist es für die Einordnung unerlässlich zu wissen, dass ein positives Testergebnis nicht bedeuten muss, dass tatsächlich eine schwere Krankheit vorliegt. Wie in unserem Beispiel kann es sogar eher die Regel sein, dass der Test positiv ist, obwohl keine Erkrankung vorliegt. Und das trotz hoher Sensitivität und Spezifität. In jedem Fall sollten die statistischen Hintergründe behandelnden Ärzten und auch den Patienten bewusst sein, um eine unnötige Verunsicherung und Ängste zu vermeiden.


Zusammengefasst: Medizinische Tests können Erreger nicht mit hundertprozentiger Sicherheit nachweisen - auch ein negatives Testergebnis kann falsch sein. Das kann bei Massentests auf seltene Erkrankungen zum paradox erscheinenden Ergebnis führen, dass die Mehrzahl der angeblich Infizierten gesund ist. Mit etwas statistischen Hintergrundwissen lassen sich falsch positive Tests richtig interpretieren.

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