Mensch und Technologie Das Versprechen ewigen Lebens

Senioren: Werden wir ewig leben?
Foto: Oliver Berg/ picture alliance / dpaDen Tod und das Vergehen zu besiegen, ist ein uralter Menschheitstraum. Er wirkt nicht nur als eine der Hauptmotivationen für Kulturbildung und die Entwicklung der Naturwissenschaften, sondern fungiert auch als eines der Hauptmotive der Selbsterzählung des Menschen: in seinen Mythen, seinen religiösen Narrationen, seiner Literatur. Während diese Erzählungen in ihrem Kampf gegen das Vergehen nur Glaube und Sprache zur Hand haben, schafft das Verständnis von Naturvorgängen von jeher die Möglichkeit, mittels Technik materielles Geschehen zu beherrschen.
Die gegenwärtigen Fortschritte der Bio-, Nano-, Info- und Neurowissenschaften verhelfen uns zu detaillierten Einsichten in die Mechanismen, mit denen sich Atome und Moleküle selbst organisieren zu Zellen und Organismen, zu neuronalen Netzwerken und Gehirnen, die Verhalten und Kognition steuern und die Herausbildung menschlicher Intelligenz bewirken. Durch neueste Erkenntnisse der Grundlagenforschung werden bisher nicht für möglich gehaltene technologische und medizinische Anwendungen und kontrollierte Eingriffe in die natürlichen Abläufe des menschlichen Körpers und Geistes in greifbare Nähe gerückt - oder werden bereits durchgeführt.
Vor diesem Hintergrund und unter Annahme einer exponentiellen Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts entwirft der amerikanische Erfinder, Futurologe und bekennende Transhumanist Ray Kurzweil, geboren 1948, die Vision einer nahen Zukunft, in der Künstliche Intelligenz die menschliche auf allen Gebieten überholt, in der der Mensch mit intelligenter Technologie verschmilzt, Krankheiten und Altern durch den Einsatz von und Nanomedizin bekämpft werden und schließlich niemand mehr eines natürlichen Todes sterben muss:
"Auch wenn die nötigen Mittel noch nicht zur Hand sind, verfügen wir doch über das Wissen, wie wir bis zu dem Zeitpunkt überleben können, an dem sie uns zur Verfügung stehen werden. Schon mit dem heutigen Wissen können selbst Angehörige meiner Generation in fünfzehn Jahren noch bei guter Verfassung sein. Ich nenne das Brücke Eins. Danach wird es möglich werden, unsere Biochemie zu reprogrammieren und unser biologisches Programm durch zu modifizieren, das ist Brücke Zwei. Dies wird uns wiederum lange genug leben lassen, um Brücke Drei zu erreichen. Und dann werden uns die und Nanoroboter in unserem Körper dazu befähigen, ewig zu leben."
Das Ingenieursprinzip
Während solche Thesen in europäischen Ohren gewagt klingen und eine Reihe wissenschaftlicher Zweifel und ethischer Bedenken wecken, scheinen sie in den USA im Kontext einer Kultur der Grenzverschiebungen weniger zu verstören. Hier werden sie in der Wissenschafts- und Technologieszene schon länger ernsthaft diskutiert. Doch nicht nur deswegen ist Kurzweil in den USA ein gefragter Mann. Auch seine Karriere als Erfinder, eine Story, wie Amerika sie liebt, mag ihren Anteil daran haben. Um seine erfolgreichen Erfindungen - etwa ein Text-to-speech-Lesegerät für Blinde, das in einem Mobiltelefon Platz findet - richtig zu timen, beobachtet er die Entwicklungen der Informationstechnologien und formuliert exponentielle Wachstumsgesetze, mit deren Hilfe er vorausberechnet, wann die benötigten technischen Elemente zum richtigen Preis, in der richtigen Größe und mit der richtigen Leistungsstärke zur Verfügung stehen werden.
Im Alter von 35 Jahren erkrankt Kurzweil an Typ-II- und überwindet die Krankheit seither nach eigenen Angaben durch die Herangehensweise eines Ingenieurs: Auf wissenschaftliche Erkenntnisse vertrauend, stellt er seinen Lebensstil radikal um und nimmt täglich 200 Nahrungsergänzungsmittel ein. Laut Kurzweil sind Biologie und Medizin spätestens seit der Sequenzierung der menschlichen DNA und dem Aufkommen der Bioinformatik zu Informationswissenschaften geworden, deren Fortschritt damit gleichfalls einer exponentiellen Beschleunigung unterliege - woraus Kurzweil, diese Beschleunigung in die Zukunft rechnend, die Vision vom Menschen entwickelt, der mit intelligenter Technologie verschmilzt und im Prinzip nicht mehr sterben muss.
Auch diese Extrapolationen gegenwärtiger Trends bringen Kurzweil in den USA nicht den Ruf eines Verrückten ein. Im Gegenteil trägt er zahlreiche Ehrendoktortitel und gründete kürzlich mit der Unterstützung von Google und der NASA die Singularity University, ein Studienprogramm, das sich, pragmatisch ausgerichtet, mit der Zukunft des Menschen und des Planeten unter dem Einfluss der sogenannten emergierenden Technologien beschäftigt - wie beispielsweise der Biotechnologie und Bioinformatik, der Neuroprothetik, der Nanotechnologie und der Künstlichen Intelligenz.
Die Kombination aus Utopie, Wissenschaftsgläubigkeit und unternehmerischem Erfolg als Erfinder lässt Kurzweil und seine Thesen wie ein Vexierbild erscheinen, das beständig von Seriosität zu Phantasterei und zurück springt. Was an seiner Verkündigung der radikalen Lebensverlängerung und eines Verschmelzens des Menschen mit Technologie ist Wissenschaft, was religiöses Heilsversprechen, was reine Science-fiction? Wir haben Kurzweils Thesen zum Anlass genommen, den heutigen Stand der Naturwissenschaften, seriöse Zukunftsszenarien und die auf den Menschen zukommenden Herausforderungen auszuloten.
Dazu haben wir eine interdisziplinäre Gesprächsreise unternommen, die uns zunächst zu Naturwissenschaftlern führte: zu dem Nobelpreisträger und Begründer der supramolekularen Chemie Jean-Marie Lehn, dem Zellbiologen und Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Peter Gruss, dem Stammzellforscher Hans Schöler, dem Biogerontologen David Gems, dem Hirnforscher Wolf Singer, dem Biophysiker und Neuroprothetiker Ad Aertsen und zu Luc Steels, der Künstliche Intelligenz erforscht. Dabei zeigte sich zum einen, dass die Wissenschaftler großartige Geschichtenerzähler sind, Erzähler einer Geschichte des Menschen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis stützt und dadurch die Autorität einer augenscheinlich nicht-erfundenen Erzählung, einer Real-fiction entfaltet.
Durchschnittliche Lebenserwartung steigt kontinuierlich
Zum anderen stellte sich heraus, dass die wissenschaftliche Gegenwart der sogenannten Life Sciences bereits mehr als erstaunlich ist. Nachdem viele tödliche Infektionskrankheiten besiegt sind, nehmen Molekularbiologie, Nanomedizin und Genomik die heutigen Haupttodesursachen der westlichen Welt in Angriff: Alterskrankheiten wie , Herz-Kreislauf-Erkrankungen und . Im Rahmen des Humangenomprojekts, das im Jahre 2003 abgeschlossen wurde und eine wissenschaftliche Jahrhundertleistung darstellte, hat die Sequenzierung eines einzigen menschlichen Genoms noch mehrere hundert Millionen Dollar gekostet und dreizehn Jahre gedauert - in wenigen Jahren soll dies innerhalb eines Tages für nur 1000 Dollar möglich sein! Die Ankunft einer personalisierten Medizin, in der Genom und Proteom der Patientin herangezogen werden, um eine molekulare Therapie auf sie maßzuschneidern, steht außer Frage.
Die ermöglicht eine regenerative Medizin, die heute schon im Tierversuch geschädigtes Gewebe und komplexe Organe wie die Lunge nachwachsen lässt und Querschnittslähmungen heilt. Sogar das Altern selbst wird ins Visier genommen: Durch Genmanipulation konnte die Lebensspanne von Würmern um das Zehnfache, die von Fliegen um achtzig bis hundert Prozent und die von Mäusen immerhin um bis zu fünfzig Prozent verlängert werden.
Den Alterstod sieht die moderne Evolutionstheorie laut David Gems nur als Nebenprodukt der Evolution an, etwa wie Brustwarzen beim Mann - funktions- und sinnlos. Und die Entwicklung eines Anti-Ageing-Mittels, das das Altern verlangsamt und somit die gesunde Lebensspanne verlängert, hält er in nicht allzu ferner Zukunft für wahrscheinlich. und Künstliche Intelligenz arbeiten an sensorischen, motorischen und kognitiven Neuroprothesen, um bei Patienten gestörte Funktionen des Nervensystems zu ersetzen. Ein ewiges Leben auf Erden hielten die befragten Wissenschaftler dennoch durchgehend unisono für unwahrscheinlich, und das Hochladen eines menschlichen Bewusstseins auf Computerfestplatten - eine weitere beliebte transhumanistische Vision - für schlichtweg unmöglich.
In den vergangenen 160 Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung in den entwickelten Ländern kontinuierlich um 2,5 Jahre pro Dekade und verdoppelte sich von vierzig auf rund achtzig Jahre. Ein Abflachen dieses Anstiegs, der auf den gewachsenen materiellen Wohlstand und den wissenschaftlich-medizinischen Fortschritt zurückzuführen ist, ist nicht auszumachen: Gegenwärtig gewinnen die Bewohner der westlichen Hemisphäre pro Tag immer noch sechs Stunden Lebenszeit hinzu. Und auch die maximale Lebensspanne steigt, der Rekord liegt zurzeit bei 122 Jahren. Entsprechend prognostiziert der Demograf James Vaupel, dass die Mehrheit der heutigen Neugeborenen älter als hundert Jahre werden wird - wobei in seiner Rechnung eine Verlangsamung des Alterns aufgrund etwaiger Erfolge der biomedizinischen Langlebigkeitsforschung, die auch Vaupel durchaus für möglich hält, noch nicht berücksichtigt ist. Was bedeutet diese reale Steigerung der gesunden Lebensspanne für Individuum und Gesellschaft? Was würde eine noch extremere Steigerung um einige hundert Jahre bedeuten? Oder - ein Gedankenexperiment - ein tatsächlich ins Unendliche verlängertes Leben? Wird Überbevölkerung zu einem unlösbaren Problem? Die meisten Menschen, so Vaupel, leben schon heute in Ländern, in denen die Sterberaten über den Geburtsraten liegen, ein Anstieg der Weltbevölkerung über neun bis zehn Milliarden sei unwahrscheinlich, und danach werde man sich eher wegen des Bevölkerungsschwunds sorgen.
Langeweile? Nicht, wenn wir gesund bleiben und lernen, unser Leben mit vielen komplexen und damit interessanten Tätigkeiten zu füllen, meint der Philosoph und Emotionsforscher Aaron Ben-Ze'ev. Zudem erwartet er ein Comeback der Liebe in den Zeiten der Langlebigkeit - denn ein kurzes Leben verbringe man vielleicht noch mit jemandem, den man nicht wirklich liebt, aber wer würde das ein wirklich langes Leben lang tun? Der Technik-Ethiker Bert Gordijn hält die Befreiung und Linderung von Leid für ein Grundprinzip der Ethik. Er sieht aber auch massive Möglichkeiten zur Manipulation der menschlichen Natur auf uns zukommen, eine weit reichende und rasante "Anthropomorphisierung der Technologie und eine Artefaktibilisierung des Menschen", während Gesetzgebung und öffentlicher Diskurs mit den schon voll im Gange befindlichen Entwicklungen in keiner Weise Schritt halten könnten.
"Das Transrationale bleibt auf der Strecke"
Der Künstler Daan Roosegaarde nimmt mit seinen interaktiven Installationen den technologischen Fortschritt vorweg und begleitet ihn kritisch. Gleichzeitig demonstriert er, wie eine technisierte Lebenswelt die menschliche Identität verändert und neue, authentische Erfahrung ermöglicht. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel dagegen sähe das Ende der Kunst in einer Welt unsterblicher Menschen, denen die "existenzielle Beunruhigung" fehle, die bohrende Angst, so dass Kunst "nur noch der Dekoration diente und kein Existenzial mehr wäre". Der Jesuit Friedhelm Mennekes warnt vor einer Reduzierung des Menschen auf seine körperlichen und physikalischen Funktionen. "Das Transrationale bleibt dabei auf der Strecke." In einer unwahrscheinlichen Welt unsterblicher Menschen sähe er die Religion nicht funktionslos: "Der biblische Lebensbegriff arbeitet [ ] mit einem weiteren Verständnis der Überwindung des Todes. Es geht über die Konturen dieses Lebens hinaus."
Die Aussicht auf eine mögliche weitere signifikante Verlängerung der gesunden Lebensspanne des Menschen, die auch seriöse Wissenschaftler nicht ausschließen, steht im Zentrum einer enormen Fülle von Entwicklungen auf vielen verschiedenen Gebieten und verdeutlicht vielleicht am drastischsten die gegenwärtige Veränderung der conditio humana. Nun haben die Naturwissenschaften schon von jeher nicht nur unser Menschenbild, sondern auch den Menschen selbst verändert. Die emergierenden Technologien, die unter den Stichwörtern Bio, Nano, Info und Neuro zusammengefasst werden (für Biologie, Nanotechnologie und -medizin, Informationstechnologie und Neurowissenschaften, also Hirnforschung und Neuroprothetik), sind zugleich merging technologies, die immer enger zusammenrücken. Sie könnten den Menschen in nicht allzu ferner Zukunft in einem nie zuvor erlebten Ausmaß verändern, wodurch sich die Frage nach seiner Natur auf dringliche Weise neu stellt. Und wie kann die zunehmende Beherrschung der Natur des Menschen zur Ausweitung seiner Selbstbestimmung genutzt, wie kann seine Selbstinstrumentalisierung verhindert werden?
Der Literaturnobelpreisträger etwa sah den Menschen als "Verwandlungswesen" und hielt den Tod für die größte Ungerechtigkeit. Er stellte sich ein Leben, das 200 oder 300 Jahre dauert, "unvergleichlich voller und reicher vor, als es heute möglich ist". Canetti war sich sicher, dass es aufgrund des Fortschritts der Biowissenschaften "in absehbarer Zeit" dazu kommen wird. Die Frage ist allerdings, ob die "Artefaktibilisierung" des Menschen, die mit seiner Umrüstung zunehmen wird, nicht in einen Teufelskreis führt, in dem innere Erfüllung wegen übergroßer Entfremdung von unserer dinglichen und lebendigen Umwelt und damit auch von uns selbst immer weniger möglich wird. Eine solche Erfüllung aber wäre Voraussetzung, in Frieden sterben zu können. Fehlt sie, muss immer mehr Lebensdauer, immer mehr Macht und Geld angehäuft werden, um die statistische Chance, die Erfüllung eines Tages doch noch zu finden, zu erhöhen - während dieselbe Akkumulation die Entfremdung nur steigert.