Nahtod-Erlebnisse Schweben über dem OP-Tisch

Sie glauben ihren Körper zu verlassen oder ein helles Licht zu sehen: Viele Herzstillstand-Patienten berichten über solche Erfahrungen - obwohl sie klinisch tot waren. Eine Studie zeigt jetzt, dass mehr dahinterstecken könnte als Fantasie.
Von Timo Stukenberg
Licht in der Dunkelheit: Von derartigen Erinnerungen berichten zahlreiche Menschen nach einem Herzstillstand

Licht in der Dunkelheit: Von derartigen Erinnerungen berichten zahlreiche Menschen nach einem Herzstillstand

Foto: Christopher Furlong/ Getty Images

Das Herz steht still, die Geräte zeigen keine Hirnaktivität an, ein Arzt lädt die Kontakte des Defibrillators auf und setzt an. "In der nächsten Sekunde war ich dort oben, sah auf mich herunter, auf die Krankenschwester und den Mann mit der Glatze", berichtet ein 57-jähriger Patient.

Der Mann mit der Glatze und die Schwester waren offensichtlich erfolgreich. Anders hätten die Forscher um Sam Parnia von der State University of New York at Stony Brook wohl nie von der Erfahrung des Patienten erfahren. Sein Bericht ist nur einer von vielen: Die Wissenschaftler haben die Daten von 2060 Herzstillstand-Patienten aus den USA, Großbritannien und Österreich untersucht.

Von den 330 Überlebenden befragten sie 140 zu ihrer Wahrnehmung an der Schwelle zwischen Leben und Tod. 46 Prozent hatten Erinnerungen an Angstgefühle, Tiere und Pflanzen, ein helles Licht, Gewalt oder familiäre Erlebnisse, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt "Resuscitation" . Zwei Prozent der Befragten hätten sogar berichtet, während der Wiederbelebung bei vollem Bewusstsein gewesen zu sein.

Das Gehirn stelle seine messbare Aktivität in der Regel spätestens 30 Sekunden nach dem Herzstillstand ein, schreiben Parnia und seine Kollegen. Doch das passe nicht mit manchen Erfahrungsberichten zusammen, wie etwa dem des 57-jährigen Patienten.

"Wir schätzen, dass er nach dem Herzstillstand noch mehrere Minuten lang bei Bewusstsein war", schreiben die Forscher. Der Mann hätte von zwei Pieptönen berichtet, die eine Maschine im Raum abgegeben habe. Das geschehe jedoch nur alle drei Minuten. Die Wissenschaftler sahen die Aussagen des 57-Jährigen als erwiesen an, nachdem sie seine Aussagen über Personen, Geräusche und Vorgänge dem tatsächlichen Geschehen abglichen hatten.

Wissenschaftler arbeiten schon seit Jahren daran, Nahtod-Erfahrungen zu erklären. Meistens werden sie mit außergewöhnlicher Hirnaktivität an der Schwelle zum Tod erklärt. Doch trotz der großen Zahl anekdotischer Berichte sei die breite Palette kognitiver Erfahrungen während der Wiederbelebungsmaßnahmen noch nie systematisch studiert worden, bemängeln Parnia und seine Kollegen.

Löwen, Tiger, Pflanzen

Um ihre Ergebnisse zu verifizieren, interviewten die Forscher die Patienten mehrmals. Zwei Prozent der Befragten gaben an, sich an die Reanimation erinnern zu können. Sie hätten gesehen und gehört, was im Operationssaal um sie herum vorging. Rund jeder zehnte Überlebende sagte, dass er eine Nahtoderfahrung gemacht habe. 46 Prozent hätten sich an bestimmte Themen erinnern können - Löwen und Tiger zum Beispiel oder ein helles Licht. Aber auch Ertrinken, Verbrennen oder schlicht Angst gehörten zu den Erinnerungen.

"Auch wenn sich nicht alle Menschen später an ihre Erfahrungen erinnern können, könnten viel mehr Menschen solche Erfahrungen gemacht haben", sagt Parnia SPIEGEL ONLINE. "Wir wissen allerdings nicht, was die Themen zu bedeuten haben."

Berichte von außerkörperlichen oder Nahtod-Erfahrungen gibt es viele. Wissenschaftlich sind die wenigsten davon, sagt Thomas Metzinger, Leiter der Forschungsstelle Neuroethik/Neurophilosophie an der Universität Mainz. Er selbst sagt, insgesamt sieben solche Erfahrungen gemacht zu haben, während er an seiner Doktorarbeit schrieb. Belegen konnte er sie trotz zahlreicher Versuche jedoch nicht.

Parnia und seine Kollegen haben für ihre Studie die Berichte über die Reanimationen der Patienten ausgewertet, die Erinnerungen wurden aber zwangsläufig erst später abgefragt. Die Berichte sind daher mit Vorsicht zu genießen. "Menschen interpretieren diese Erfahrungen sehr persönlich, ähnlich wie Träume", sagt der Psychologe Dave Wilde von der britischen Nottingham Trent University.

Metzinger bezweifelt indes nicht, dass es solche Nahtoderfahrungen gibt: "Wenn es um die Wurst geht, schüttet das Gehirn aus, was geht."

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