Natur und Erkenntnis Die Weltformel ist tot

Das Streben der Naturwissenschaft nach einfachen, universellen Gesetzen ist gescheitert, meint die US-Philosophin Sandra Mitchell. In einem Essay für SPIEGEL ONLINE fordert sie eine radikale Abkehr von bisherigen Denkmodellen und eine neue Erkenntnistheorie.

Naturwissenschaft ist für die Menschheit wichtig, weil sie verlässliche Kenntnisse schafft. Nach der hergebrachten Vorstellung vollbringt sie diese Leistung zum Teil dadurch, dass sie Komplexität auf einfache, allgemeingültige, zeitlose Grundgesetze zurückführt, mit denen sich erklären lässt, was es gibt und wie es sich verhält. Indem wir die "blühende, schwirrende Verwirrung" (William James) unserer uninterpretierten Welterfahrung zähmen und einfache allgemeine Gesetze formulieren, können wir die aus solchen Gesetzen abgeleiteten Folgerungen nutzen, um kühne Voraussagen zu machen und unsere Handlungen zum Nutzen unserer Ziele zu gestalten.

Nachdem es im 17. Jahrhundert im Rahmen der naturwissenschaftlichen Revolution gelungen war, vereinfachende, einheitliche Darstellungen wie insbesondere die Newtonschen Bewegungs- und Gravitationsgesetze zu schaffen, definierten auch die Philosophen in ganz ähnlichen Begriffen, was sie als verlässliches Wissen anerkennen wollten. Allgemeingültigkeit, Determinismus, Einfachheit und Einheitlichkeit galten nun als Kennzeichnen zuverlässiger Kenntnisse. Die Welt mochte komplex erscheinen, aber die Naturwissenschaftler versicherten uns mindestens bis ins 20. Jahrhundert hinein, sie sei im Grunde einfach und deshalb auch verständlich.

Die Welt der Newtonschen Naturwissenschaft hatte keinen Bestand. Einige ihrer wichtigsten Grundannahmen wurden von den Physikern des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. In jüngerer Zeit bildete die historische und kontingente Komplexität der belebten Natur eine verheerende Herausforderung für die noch verbliebenen traditionellen Ansichten, wonach naturwissenschaftliche Kenntnisse in der letzten Analyse einfach und allgemein gültig sein müssen. Dieses Buch untersucht, welche Folgerungen sich aus der wissenschaftlichen Erforschung komplexer natürlicher Systeme in jüngerer Zeit für unseren erkenntnistheoretischen Rahmen ergeben.

Viele Naturwissenschaftler, Philosophen und politisch Verantwortliche lehnen die in meinen Augen unverzichtbaren Veränderungen in unseren Vorstellungen von verlässlichen wissenschaftlichen Kenntnissen ab. Warum? Wenn Menschen das Wort "Komplexität" hören, reagieren sie ganz unterschiedlich. Manche denken "kompliziert" oder "durcheinander" und sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Andere assoziieren "Chaos", etwas Uneingeschränktes und Unkontrollierbares, einen Bereich der Unberechenbarkeit und Unsicherheit, der sich dem Verständnis der Menschen nicht erschließt. Das ist nicht die Rückversicherung, die sie sich von der Naturwissenschaft versprechen. Komplizierte, komplexe, kontingente Erklärungen dafür, wie die Dinge funktionieren, können doch keine "Wissenschaft" sein, oder?

Aber die moderne Naturwissenschaft lehrt uns, dass die Welt tatsächlich komplex ist, und entsprechend komplex sollten auch unsere Darstellungen und Analysen dieser Welt sein. Die positive Erkenntnis dabei: Die Komplexität ist handhabbar und verständlich; sie macht eine Entwicklung durch und hat eine Dynamik. Weder ihre Komplikationen noch ihre chaotische Dynamik sollten neugierige Menschen abschrecken, und sie sollten sich nicht veranlasst sehen, die altehrwürdigen, sauberen Leitlinien des Einfachen und Zeitlosen an die Stelle einer klarsichtigen Untersuchung der vielschichtigen Schönheit der Komplexität zu setzen.

Beim heutigen Stand der Naturwissenschaft können wir erkennen, wie und warum der traditionelle erkenntnistheoretische Rahmen unvollständig ist. Dabei versagt der traditionelle Rahmen nicht immer; es bleiben erstaunliche Erfolge, die seit Newtons Zeit seine Leistungsfähigkeit belegen. Aber große Teile der Welt entziehen sich seinen Konzepten und Methoden. Dieses Buch nimmt die Herausforderung an: Es macht deutlich, wo die traditionellen Annahmen versagen, und artikuliert die Merkmale eines neuen Denkansatzes, der einen größeren begrifflichen Raum beinhaltet und so eine zuverlässige Einordnung unserer komplexen Welt ermöglicht. Ich beschreibe, wie eine erweitere Methode zum Erkenntnisgewinn, die ich als "integrativen Pluralismus" bezeichne, unsere Kenntnisse über einfache und komplexe Systeme einschließen kann. Außerdem beschreibe ich einige Einzelheiten des neuen integrativen Pluralismus und seiner Anwendung in der Erforschung des Komplexen.

Die neue Art des Verstehens

Meine These lautet: Komplexität liegt nicht außerhalb unseres Verständnisvermögens, aber sie erfordert eine neue Art des Verstehens. Sie verlangt, dass man im Einzelnen analysiert, in welch vielfältiger Weise der Zusammenhang dazu beiträgt, die Naturphänomene zu prägen. Historische Kontingenz schafft im Zusammenwirken mit Zufallsepisoden die tatsächlichen Formen und Verhaltensweisen, mit denen das Lebendige unseren Planeten bevölkert. Der neue erkenntnistheoretische Ansatz, der diese Tatsachen in sich einschließt, hat unter anderem folgende Merkmale:

  • Pluralismus: Einbeziehung zahlreicher Erklärungen und Modelle auf vielen Analyseebenen anstelle der Erwartung, es müsse immer auf der untersten Ebene eine einzige, reduktive Erklärung geben.
  • Pragmatismus anstelle des Absolutismus: Es wird anerkannt, dass es viele Wege gibt, um das Wesen der Natur zutreffend – allerdings auch nur teilweise – zu beschreiben. Darunter sind verschiedene Grade der Verallgemeinerung und verschiedene Abstraktionsebenen. Welche Darstellung am besten "funktioniert", hängt von unseren Interessen und Fähigkeiten ab.
  • Der im Wesentlichen dynamische, evolutionsorientierte, von Rückkopplung geprägte Charakter der Teilbereiche der Natur und unserer Kenntnisse über sie. Diese Merkmale erfordern, dass wir neue Mittel zur Erforschung der Natur finden und auf Grund des so gewonnenen Wissens handeln.

Ich setze mich für einen pluralistisch-realistischen Ansatz der Ontologie ein; er besagt nicht, dass es verschiedene Welten gebe, aber es gibt demnach mehrere richtige, einander ergänzende Wege, um unsere Welt zu analysieren: Dabei werden verschiedene Gegenstände und Prozesse herausgegriffen, in denen sich sowohl die Kausalstrukturen als auch unsere Interessen widerspiegeln. Die Vorstellung, es gebe für die Welt nur eine richtige Darstellung, die genau ihre natürlichen Entsprechungen wiedergibt, ist vermessen. Jede Darstellung ist im besten Fall partiell, idealisiert und abstrakt. Diese Eigenschaften machen Darstellungen nützlich, aber sie setzen auch Grenzen für unsere Behauptungen über die Vollständigkeit jeder einzelnen Darstellung.

Standards, die eine bestimmte Darstellung rechtfertigen, bestehen aus einer Kombination von Maßstäben für vorausschauende Nutzung, Einheitlichkeit, Robustheit und Relevanz. Von genau den gleichen Maßstäben sollten wir uns dann auch leiten lassen, wenn wir die Darstellungen anwenden, um zu verstehen, vorauszusagen und zu handeln. Gegenüber den Modellen, Theorien und Erklärungen, die von Wissenschaftlern angeboten werden, ist Pluralismus der geeignete Standpunkt. Man sollte nicht mehr von vornherein gewillt sein, Erklärungen auf die Grundelemente zu reduzieren, deren sich die moderne Physik bedient, denn dies entwertet Erklärungen für Eigenschaften auf höheren Organisationsebenen, die aus den komplexen Wechselbeziehungen in der Welt überhaupt erst erwachsen.

Ein weiterer Aspekt des Pluralismus betrifft unser Verständnis für wissenschaftliche Gesetze. Der Denkrahmen des 19. Jahrhunderts leitete aus der Betrachtung von Newtons Erfolgen die Vorstellung ab, ein Naturgesetz müsse eine von Natur aus notwendige, universelle, ausnahmslos gültige Wahrheit sein. Analysiert man aber genauer, was für allgemeine Aussagen in der Wissenschaft verbreitet sind, so stellt sich heraus, dass die meisten allgemein anerkannten Aussagen über die Welt kontingent, von begrenzter Geltung und von Ausnahmen geprägt sind. Wir brauchen eine erweiterte Bedeutung für den Begriff "Gesetze", in der sich unterschiedliche Grade von Kontingenz, Stabilität und Geltungsbereich der abgebildeten Kausalstrukturen widerspiegeln. In der neuen Erkenntnistheorie des integrativen Pluralismus gibt es mehr als nur die physikalischen Elementarteilchen, und es gibt auch nicht nur jene Gesetze, die von Natur aus notwendig, universell und ausnahmslos gültig sind.

Wenn es darum geht, nach welchen Maßstäben eine der vielen Wahrheiten über die Welt in die wissenschaftlichen Kenntnisse einfließt, tritt im integrativen Pluralismus der Pragmatismus an die Stelle des Absolutismus. Ob eine bestimmte Darstellung als diejenige anerkannt wird, die bei Untersuchungen oder Handlungen angewandt wird, ist zum Teil von pragmatischen Interessen abhängig, das heißt von den Zielen, die wir durch die Anwendung der Darstellung erreichen wollen. Wenn keine Reduktion auf die grundlegende materielle Beschreibung gefordert wird, ist nicht von vornherein festgelegt, welche Abstraktionsebene zur Anwendung kommt.

Und schließlich tritt im integrativen Pluralismus ein dynamisches, sicher weiterentwickelndes Wissen an die Stelle der statischen Allgemeingültigkeit. Während der Entwicklung des Universums und im Laufe der Evolution des Lebens auf unserem Planeten sind neue Kausalstrukturen entstanden. In der Evolution der Sterne wurden neue Elemente geschaffen, und der Prozess der Artbildung führte zu neuen Formen von Individualität, Fortpflanzung und Überlebensstrategien. Unsere Kenntnisse über die von dem neuen System definierten Kausalstrukturen entwickeln sich mit der sich wandelnden Welt weiter. Nicht alle Kausalstrukturen sind gleichermaßen historisch kontingent; manche wurden in den ersten drei Minuten nach dem Urknall festgelegt, andere, etwa Retroviren oder die gesellschaftlichen Einrichtungen der Menschen, sind jüngeren Datums und vergänglicher. Unsere Welt wandelt sich, und als Reaktion darauf muss sich auch unser Wissen über sie wandeln. Von vornherein einen statischen, universellen Schatz ausnahmslos gültiger Kenntnisse zu fordern, ist einfach nicht angemessen.

Wie untersuchen wir eine Welt mit historisch kontingenten, kontextabhängigen Strukturen, die sich dynamisch stabilisieren und destabilisieren? Wie entscheiden wir auf der Grundlage des heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes, welche Vorgehensweisen wir uns zu eigen machen wollen, um unsere individuellen und kollektiven Ziele zu erreichen? Sicherheit und sogar Wahrscheinlichkeitsschätzungen für voraussichtliche Ergebnisse müssen einer Darstellung mehrfacher Szenarien Platz machen. An die Stelle unwiderruflicher politischer Entscheidungen muss ein anpassungsorientiertes Management treten, das eine ständige Überwachung, Aktualisierung und Neubewertung der Handlungen erfordert.

Dass die Zeit für einen neuen erkenntnistheoretischen Ansatz reif ist, liegt nicht nur an den Problemen mit dem alten Schema. Die – computergestützten – Verfahren, die der Wissenschaft heute zur Verfügung stehen und eine ganz neue Darstellung der Komplexität ermöglichen, wären für die Denker des 17., 18. und 19. Jahrhunderts unvorstellbar gewesen; damals war man vermutlich überzeugt, die Reduktion auf einfache, universelle Gesetze sei ein notwendiges Merkmal der Wissenschaft, weil nur sie kognitive Zugänglichkeit zu den Phänomenen gewährleistete. Heute brauchen wir uns auf das, was wir uns in unserem Kopf ausmalen oder herausfinden können, ebenso wenig zu beschränken wie auf mathematische Darstellungen mit einer geschlossenen Form von Lösungen.

Verfahren mit computergestützten Lösungen sind heute allgemein verbreitet. Mit den Fortschritten der Computertechnik ergibt sich die Möglichkeit, Systeme mit wechselnden Parametern und unterschiedlichen Zusammenhängen zu simulieren. Dabei kann man erheblich mehr Daten und Interaktionen einbeziehen. Die Computerhilfsmittel schaffen sogar die Möglichkeit, die gewaltigen Informationsmengen zu speichern, die für die Anwendung nicht-universeller, von Ausnahmen durchsetzter Gesetze auf neue Zusammenhänge erforderlich sind. Statt ewig gültiger, universeller, überall in Raum und Zeit anwendbarer Gesetze bringt eine auf Komplexität eingestellte Erkenntnismethode eine Fülle kontingenter, auf bestimmte Bereiche beschränkter Aussagen hervor, die mehr oder weniger stabile Kausalstrukturen beschreiben und deren Anwendung so viele Daten erfordert, dass ein einzelnes menschliches Gehirn sie überhaupt nicht handhaben kann.

Zu Beginn des Buches geht es um eine Erweiterung und Neubewertung der hergebrachten Vorstellungen von Wissenschaft und Kenntnissen. Ich befasse mich mit drei Bereichen unseres Denkens und Handelns, in denen die Komplexität uns zwingt, alte Ansichten über rationales Überlegen und handeln zu revidieren. Dabei untersuche ich, wie Komplexität und Kontingenz der natürlichen Vorgänge sich auswirkt:

auf die Art, wie wir die Welt in Begriffe fassen; auf die Art, wie wir die Welt erforschen, und auf die Art, wie wir in der Welt handeln.

Anstatt die heutigen wissenschaftlichen Kenntnisse weiterhin in das zur Zwangsjacke gewordene Korsett einer reduktiven, fundamentalen, einseitigen Sichtweise für die Wissenschaft zu zwängen, müssen wir mit der Erweiterung unseres begrifflichen Rahmens auch unser Bild von dem ändern, was überhaupt als legitime Wissenschaft gelten kann.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren