Naturschutz Serengeti hinter den Deichen
Wenn Hans Kampf sich die Zukunft ausmalt, sieht er Herden lang behörnter Rinder gemächlich grasend die Auen des Rheins und der Ijssel hinaufziehen. Hunderte wilder Pferde galoppieren vor der fernen Silhouette moderner Wohnkomplexe durch abwechslungsreiches Buschland zwischen Utrecht und Amsterdam. Rothirsche kreuzen über bis zu 200 Meter breite Grünbrücken Straßen und Eisenbahntrassen an der deutsch-niederländischen Grenze.
Von Hamburg bis zu den Vogesen könnte das Netzwerk aus Naturschutzgebieten und Grünkorridoren reichen, wenn Kampfs Visionen Wirklichkeit werden. Und der Mann ist kein Phantast: Im niederländischen Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz und Fischerei plant Kampf den Naturschutz von morgen.
Ausgerechnet die Niederlande, bislang eher berüchtigt für Treibhaustomaten, rigorose Landgewinnung und Massentierhaltung auf kleinster Fläche, sind Vorreiter einer Öko-Idee, die einigen der einst in Europa heimischen Großtiere wieder eine Chance einräumen will. Urwüchsige Rinder, wilde Pferde, selbst Elche wollen die Niederländer künftig zwischen Tulpenfeldern und Agrarfabriken äsen lassen.
Rund 200 000 Hektar der Landesfläche, so das derzeitige Regierungsprogramm, sollen bis 2020 in einen möglichst naturnahen Zustand versetzt werden. Der Einsatz der Huftiere gilt dabei als Königsweg: "Beweidungssysteme mit großen Pflanzenfressern sind in vielen Biotopen sehr naturnah und entsprechen annähernd der ursprünglichen Situation in Westeuropa", wirbt Kampf für sein Konzept. "Sie erfordern wenig menschliche Intervention und sind zudem sehr billig."
In Oostvaardersplassen, einem 5600 Hektar großen Gebiet in Flevoland nordöstlich von Amsterdam, ist die Vision bereits zu besichtigen: Einst mühsam dem Meer abgetrotzt, gilt das eingedeichte Land heute als die Serengeti der Niederlande. Wer die Bahn von Almere nach Lelystad nimmt und den Blick nach links wendet, glaubt sich in eine Folge von Grzimeks "Ein Platz für Tiere" versetzt: Herden kleiner, hell gefärbter Pferde galoppieren über die weite Fläche. Die schlanken Köpfe zahlloser Rotwildkühe lugen über dem nahen Riedgras hervor. Schwarze, martialisch aussehende Rinderbullen mit ausladenden, säbelförmigen Hörnern lagern zwischen Korbweiden und hohen Holunderbüschen.
1983 setzten Biologen hier die ersten 32 Heck-Rinder aus, kompakte Wiederkäuer, die den ausgestorbenen Auerochsen ähneln. Ein Jahr später kamen 20 der kleinen Konik-Pferde hinzu. Ihr Aussehen kommt dem des Tarpan nahe, eines ausgestorbenen europäischen Wildpferdes.
Zusammen mit Rot- und Rehwild leben die Tiere seither sommers wie winters in Oostvaardersplassen. Kein Zaun durchschneidet ihren Lebensraum; kein Mensch füttert sie oder hindert sie daran, sich in Kämpfen zu erschöpfen oder auch mal umzubringen. Inzwischen ist die Zahl der Heck-Rinder auf 575 Exemplare angewachsen. 580 Stück Rotwild, 100 Rehe und fast 600 Konik-Pferde teilen sich die nährstoffreichen Marschen. "Das hier ist eine Art Freilandlabor", sagt Kampf, "wir lehnen uns zurück, beobachten und lernen."
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ein Mosaik aus Wäldchen und Offenland ist in Oostvaardersplassen entstanden, artenreiches Grünland, das in Europa inzwischen selten ist und anderswo durch schweißtreibende Mahd und Entbuschung vor der Verwaldung bewahrt werden muss. Und die Fläche, die solcher Pflege bedarf, wächst stetig: Schätzungsweise eine Million Hektar Brachland wird in den nächsten Jahren allein in Deutschland neu entstehen, weil sich die Bewirtschaftung nicht mehr lohnt.
Der Einsatz von Pferd, Rind und Hirsch könnte eine billige und zudem naturnahe Alternative zur arbeitsintensiven Pflege bieten. "Mit Weidetieren lassen sich Flächen hervorragend offen halten", sagt Kampf. "Jedes der Tiere hat spezielle Futtervorlieben und erfüllt eine besondere Aufgabe im Öko-System." Während Hirsche und Rehe den jungen Bäumen und Trieben zu Leibe rücken, sorgen Pferde und Rinder für die Rodung der Gräser.
Inzwischen hat das niederländische Beispiel auch in Deutschland Schule gemacht. Im niedersächsischen Solling wird mit Rotwild experimentiert. Heck-Rinder weiden im Naturschutzgebiet "Falkenberger Rieselfelder" am Rand Berlins. Auch in den Lippeauen bei Soest in Westfalen grasen rund 50 Exemplare der massigen Tiere und bewahren die Flussufer vor Verwaldung.
Dass hierbei wiederkäuende Kräfte walten, die vor Tausenden Jahren die Landschaft Mitteleuropas prägten, ist für die Fans der Weidetiere keine Frage. "Wenn es den modernen Menschen nicht geben würde, lebten in Westfalen derzeit wahrscheinlich Auerochsen, Elche, Riesenhirsche und sogar Waldelefanten und Nashörner", glaubt etwa Margret Bunzel-Drüke von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest. "Es liegt nun an uns, den noch vorhandenen großen Tieren ihre Rolle im Öko-System zurückzugeben."
Bunzel-Drüke ist Verfechterin der so genannten Megaherbivorentheorie. Mindestens 18 große Pflanzenfresser, so glaubt die Naturschützerin, hätten vor der letzten Eiszeit die Landschaft Mitteleuropas geprägt und könnten auch unter den heutigen klimatischen Bedingungen noch existieren. Derzeit sind jedoch nur noch sechs heimische Groß-Vegetarier Reh, Rothirsch, Damhirsch, Gämse, Steinbock und Biber in freier Wildbahn zu finden. Die ursprünglichen ökologischen Funktionen der Pflanzenfresser könnten sie, so Bunzel-Drüke, nicht mehr erfüllen.
War Europa also einst eine weite, mit afrikanischer Savanne vergleichbare Parklandschaft, in der große Herden von Auerochsen und Wisenten grasten? Hielten die damals hier lebenden Waldelefanten und Nashörner als natürliche Gegenspieler der Bäume die Landschaft offen?
Die Megaherbivorentheorie widerspricht der vorherrschenden Lehre, nach der Europa einst fast vollständig von Wald bedeckt war. Pollenanalysen zeigen, dass Gräser nur während der Eiszeiten eine wichtige Rolle spielten. Und schon der bloße Augenschein lässt offenen Graslandschaften in hiesigen Breiten wenig Chancen: Wer Land brachliegen lässt und lange genug wartet, kann zusehen, wie es sich nach und nach in Wald verwandelt.
Die Anhänger der Megaherbivorentheorie glauben jedoch, dass die Funktion der Großtiere als natürliche Landschaftsgärtner bislang unterschätzt wurde eine Theorie, die unter Naturschützern heftigen Streit auslöst. "Naturschutzziele werden maßgeblich von der Frage bestimmt, wie die Naturlandschaft bei uns einmal aussah", sagt Bunzel-Drüke. Ein geschlossener Buchenwald, in dem das Rotwild von Jägern unter Kontrolle gehalten werde, sei keinesfalls naturnäher als eine Wald- und Wiesen-Mischlandschaft, in der Hirsch und Rind ungestört schalten und walten dürften. Bunzel-Drüke: "Wir sollten den Eingriff großer Tiere nicht als Ursache von Zerstörung, sondern als zu tolerierende Lebensäußerung betrachten."
Andere Naturschützer sind zurückhaltender. "Nicht jede Fläche ist für das Beweidungskonzept geeignet", glaubt Hubert Weiger vom Bund Naturschutz in Bayern. Gerade Wälder will der Forstexperte weiterhin mit herkömmlichen Methoden pflegen. Auch zur Rettung besonders spezialisierter Pflanzen und Tiere etwa in Moor- oder Heidegebieten wollen viele Naturschützer nicht allein auf die Kraft der Graser setzen.
Auch Bunzel-Drüke räumt ein, dass die Pflege von Kopfweiden oder die Entschlammung von Gewässern in manchen Gebieten sinnvoll sein kann. Größere Flächen in Nationalparks, renaturierte Auen, ehemalige Truppenübungsplätze oder ausgedehnte Waldgebiete seien jedoch gut geeignet, um mit den Weidetieren zu experimentieren. Flächen von mehr als 1000 Hektar gelten dabei als ideal, weil die Tiere dann nach bisherigen Erfahrungen selbst im Winter nicht gefüttert werden müssen.
Ganz neue Herausforderungen kommen auf die Naturschützer zu. Mit Blasrohr und Betäubungspfeil muss sich beispielsweise einer der Soester Wildnisfans nun regelmäßig an die jungen Kälber der Heck-Rinder heranpirschen, um ihnen die in Deutschland vorgeschriebenen Ohrmarken zu verpassen. Zudem erleben die Naturschützer, dass die Rückkehr zur Wildnis auch Sterben und Tod bedeutet. Die zähen Konik-Pferde und Heck-Rinder gelten zwar als besonders tauglich für das wilde Leben. Dennoch verhungerten in Oostvaardersplassen beispielsweise im letzten Winter rund hundert der Tiere. Viel Überzeugungsarbeit war nötig, um der Bevölkerung die Kadaver als unausweichliche Folge des Freilandexperiments zu verkaufen.
Dennoch machen die bisherigen Erfahrungen den Freunden der großen Graser Mut. Die Entwicklung einer "artenreichen Mosaiklandschaft" beobachtet Bunzel-Drüke in den Lippeauen. Zudem könnten sich die wilden Großtiere als Touristenattraktion erweisen: Schon heute kann man in Teilen von Oostvaardersplassen Wildnis pur erleben.
Mit leuchtenden Augen erzählt Hans Kampf vom Trommelfeuer der Pferdehufe, das im Sommer den hart getrockneten Boden erzittern lässt; oder von der Brunftzeit des Rotwilds im September und Oktober, wenn das Röhren der Platzhirsche und das Aufeinanderkrachen der Geweihe über die Marsch hallt. An die 30 000 Gänse grasen im Winter auf den von den Weidetieren freigehaltenen Flächen. Seeadler nutzen die angrenzenden Feuchtgebiete für die Jagd. Silberreiher, Kampfläufer und seltene Löffler finden sich auf den Wiesen ein.
"Die großen Pflanzenfresser verbessern die Lebensbedingungen füreinander und für andere Arten, insbesondere für Vögel", freut sich Kampf. Schon plant das Ministerium zusammen mit Umweltverbänden und Gemeinden den ersten Grünkorridor nach Osten, um den Tieren noch mehr Raum zu bieten.
Grund genug für Kampf, die Serengeti hinter den Deichen gedanklich bereits zu komplettieren: "Ein Biotopverbund von 100 000 Hektar könnte ausreichen, um auch Raubtieren wieder eine Chance zu geben", glaubt der Umweltexperte. "Ich bin überzeugt, dass es auch bei uns wieder Platz für Luchse, Wölfe oder sogar Braunbären geben kann."
PHILIP BETHGE