Neuer Bericht des Weltklimarats »Wir haben nur ein kleines Zeitfenster«

Überschwemmungen durch Starkregen könnten laut dem Weltklimabericht künftig noch zunehmen
Foto: Christopher Furlong / Getty ImagesIn der Klimakrise gibt es nur noch Superlative: Rekordhitze, Jahrhundertfluten und Monsterstürme sind mittlerweile an der Tagesordnung. Auch in Deutschland verlieren Menschen durch Überschwemmungen ihre Häuser oder sterben an Hitzestress.
Spätestens nach den vergangenen drei Katastrophen-Sommern ist klar: In der Klimakrise leiden die Menschen. Die Wissenschaft kann dieses Leid nun auch beziffern: Bis zu 3,6 Milliarden Personen sind besonders verwundbar. Zudem leben sie laut dem am Montagvormittag veröffentlichten Weltklimabericht in Regionen, die besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen sind – das ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung.
»Weltweit führt der Klimawandel zunehmend zu Verwundbarkeiten, Krankheiten, Unterernährung, Bedrohung der körperlichen und geistigen Gesundheit, des Wohlbefindens und sogar zu Todesfällen«, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts.
»Es gibt keinen Kontinent, der verschont bleibt«
Betroffen sind sogenannte Erwärmungshotspots wie West- und Zentralafrika, Lateinamerika, asiatische Länder, darunter Indien, Konfliktgebiete wie Afghanistan und Syrien, aber auch Europa und die USA. »Es gibt keinen Kontinent, der verschont bleibt«, sagt Hans-Otto Pörtner, einer der Leitautoren des neuen Weltklimaberichts und Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem SPIEGEL.
Seinen ersten Report veröffentlichte der von der Uno eingesetzte Weltklimarat (IPCC) im Jahr 1990. Damals ging es vor allem um die Fragen, wie sich das Klima verändert und inwiefern der Mensch dafür verantwortlich ist. Mittlerweile erscheint der sechste Sachstandsbericht. IPCC ist die Abkürzung für »Intergovernmental Panel on Climate Change«, übersetzt: Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen. Der fünfte Sachstandsbericht erschien 2013/2014.
Für die ersten beiden Teilberichte des aktuellen IPCC-Reports werteten die Forscher Tausende Klimastudien aus. Die Datenmenge ist so hoch, dass der Uno-Weltklimarat den Stand der Klimaforschung in drei Arbeitsgruppen abhandelt – in dem im August veröffentlichten Abschlussbericht geht es nur um die »naturwissenschaftlichen Grundlagen«, im nun veröffentlichen zweiten Teil geht es um die Folgen des Klimawandels und der Anpassung. Ein Dritter folgt in diesem Jahr noch zur Reduktion von Treibhausgasen. Der Synthesebericht soll Ende September 2022 vorliegen.
Bereits am Sonntagmorgen verabschiedeten Forscher und Regierungsvertreter diesen zweiten Teil des aktuellen Weltklimaberichts. Dieser erscheint alle sechs Jahre, an ihm arbeiten Hunderte Wissenschaftler aus 67 Ländern. Die Forscher werteten dafür vier Jahren lang Hunderte Studien und Datensätze aus. Die Regierungsvertreter aus fast 200 Ländern mussten am Wochenende noch die endgültige Version der »Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger« absegnen, weil der Weltklimarat im Auftrag der Uno arbeitet.
Dieses Mal war das nicht nur eine Formsache, denn der Bericht ist politisch brisant. In der – nicht öffentlichen – Abschlusssitzung sei laut den Wissenschaftlern besonders leidenschaftlich diskutiert worden. Einige Länder hatten lange Redebeiträge, zwischendrin gab es Solidaritätskundgebungen für die Ukraine – sogar russische Vertreter sprachen sich gegen den Krieg und das Handeln ihrer Regierung aus, berichten Teilnehmer.

Ahrtal im Juli 2021
Foto: Boris Roessler / dpaAuch aus einem anderen Grund sei es hoch hergegangen: Im ersten Teil des Weltklimaberichts ging es noch um die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels und die Frage, warum die Welt überhaupt in der Klimakrise steckt. Nun dreht sich alles um die Folgen für Menschen, Ökosysteme und was die Politik machen müsste, um sie zu schützen.
Darin steckt politischer Sprengstoff. Es geht darum, wie viel Geld die Länder in den Küstenschutz investieren müssen, wie Häuser für Stürme und extreme Temperaturausschläge umgerüstet und alte Menschen vor dem Hitzetod gerettet werden oder wie sicher Anwohner von Flüssen noch sind. Anpassung ist kostspielig – so die Autoren des Weltklimaberichts. Doch viel teurer und schmerzhafter wird es, nichts zu tun.
Der Bericht besteht aus 18 Kapiteln und drei Schwerpunkten:
Im ersten Themenkomplex sind die beobachteten Folgen der globalen Klimaerwärmung und Prognosen der Risiken bis Ende des Jahrhunderts zusammengefasst: Die Wissenschaftler beschreiben, wie Dürre, Überschwemmungen und andere Wetterextreme sich häufen und welchen Schaden sie für Menschen und Ökosysteme bedeuten. Schon heute leiden Milliarden Menschen unter Wassermangel, schlechterer Luftqualität, Nahrungsmittelknappheit und haben Hitzestress. Außerdem prognostizieren die Autoren die Risiken, wenn die globale Erwärmung über 1,5 Grad und in vielen Szenarien sogar um bis zu vier Grad steigt.
Zweiter Themenkomplex ist die Anpassung an den Klimawandel: Die Forscher bewerten dabei, welche Maßnahmen es bereits heute gibt, um Menschen vor den Folgen zu schützen, etwa bei Extremwetter. Sie stellen fest, dass die meisten Regierungen bisher nicht für einen ausreichenden Schutz sorgen – und dass die Mittel für Anpassung sehr ungleich verteilt sind.
Als Drittes geht es um die »klimaresiliente Entwicklung«, also wie Klimaschutz und die Anpassung an die Folgen zusammenpassen und wie dahin gehend etwa die Städte umgebaut werden müssten.
Das Zeitfenster schließt sich
An der Klimaanpassung führt kein Weg vorbei – auch das ist die Botschaft der Autorinnen. Denn selbst wenn die Menschheit morgen schlagartig alle fossilen Kraftwerke abschaltet und den CO₂-Ausstoß drastisch senkt, geht die Klimakrise noch weiter. Ein schnelles Handeln und ein Begrenzen auf maximal 1,5 Grad durchschnittliche globale Erwärmung (derzeit sind es rund 1,2 Grad), könnte die Verluste und Schäden eindämmen, »aber nicht vollständig beseitigen«, heißt es.

Sturmfluten und steigender Meeresspiegel bedrohen die Küsten
Foto: Axel Heimken / dpa»Wir haben nur ein kleines Zeitfenster für den Klimaschutz und die Anpassung«, sagt Klimaforscher Hans-Otto Pörtner. »Es gibt Grenzen, bei denen wir nichts mehr machen können.« So würden einige Ökosysteme ab einem bestimmten Temperaturlevel schlicht kollabieren, auch wenn man sie regional zu schützen versucht. Und auch die technologische Anpassung – etwa Deiche oder Klimaanlagen – kommt an ihre Grenzen, wenn es ständig extreme Wetterverhältnisse gibt.
Lisa Schipper, IPCC-Autorin und Klimaforscherin an der Universität Oxford
Wie bedroht die Ökosysteme durch eine weitere Erwärmung sind, zeigt eine Grafik im Bericht: Balkendiagramme mit Farbverläufen zeigen an, wann es brenzlig wird. Sie gehen von Gelb (moderat) über Rot (riskant) bis zu Lila (sehr hohes Risiko). Beim Waldsterben beispielsweise ist die Welt derzeit noch im gelben Bereich – obwohl in Deutschland bereits großflächig Fichten abstarben und zwei Drittel der Bäume dauerhaft krank sind. Steigen die Durchschnittstemperaturen weiter – und erreichen global dauerhaft über 1,5 Grad – wird der Balken rasch rot. Bei anderen Ökosystemen wie den Korallen sind wir bereits heute bei rund 1,2 Grad Erwärmung im roten Bereich. Diese reagieren weitaus empfindlicher auf die Erderwärmung. Danach wird es schnell dunkellila – diese Farbe steht gleichbedeutend mit dem Aussterben einer Art.
Mit dem Ökokollaps verringert sich auch unser Schutz. Ohne die kühlende Wirkung der Wälder, die Fische im Meer oder Mangroven und Korallen, die Wellen an Küsten abpuffern, reitet sich die Menschheit immer tiefer ins Klimadesaster, warnen die Wissenschaftler. Bei zwei Grad globaler Erwärmung könnten bis zu 18 Prozent aller Arten an Land aussterben, bei vier Grad wäre schon jede zweite Pflanzen- oder Tierart bedroht.
Der Druck auf die Regierungen ist groß
»In dem neuen Bericht geht es darum, was die Politik jetzt gegen diese ganzen Missstände und für den Schutz von Menschen und Arten machen müsste«, meint die Autorin Lisa Schipper von der Universität Oxford. Sie hat das Kapitel über das Zusammendenken von Klimaschutz und Anpassung koordiniert.
»An den Diskussionen mit den Regierungsvertretern haben wir gemerkt, wie politisch heikel diese Fragen nach der Anpassung sind.« So kritisiert der Bericht etwa die ungleiche Verteilung von Schutzmaßnahmen. Die Möglichkeiten von armen Ländern, sich anzupassen, seien begrenzt. Sie bräuchten Unterstützung von Industrieländern. »Indem die Regierungen den Bericht offiziell annehmen, erkennen sie das an, und daraus folgen natürlich auch finanzielle Forderungen«, so Schipper. Das spielt dann wiederum in Uno-Klimaverhandlungen eine Rolle.

Trockenheit und Dürren führen auch in Deutschland bereits zu massiven Verlusten in der Landwirtschaft
Foto: Bernd Wüstneck/ DPAAußerdem hätten die Länder zur Kenntnis genommen, dass sie sich um mehr Naturschutzgebiete kümmern oder auch ihre Kraftwerke und Stromsysteme klimagerecht umbauen müssten. Auch damit steigt der Druck auf die Regierungen.
»Wir müssen unsere Anstrengungen zur Anpassung verdoppeln und die Häuser, Brücken, Straßen, Gesundheitssysteme und Nahrungsmittelsysteme, auf die wir angewiesen sind, klimaresistent machen«, erklärte der Klima-Sonderberater von US-Präsident Biden, John Kerry, in einem Statement.
Der hohe Preis des Nichtstuns
Auch die Ampelkoalition hat bereits im Koalitionsvertrag mehr Anstrengungen bei der Anpassung gefordert. So soll demnächst ein Klimaschaden-Kataster eingerichtet werden. Damit sollen Risikogebiete in Deutschland kartiert und zu erwartende Kosten erfasst werden. Auch einige Programme für Kommunen laufen bereits.
Daniela Jacob, Climate Service Center Germany in Hamburg
Noch hinke Deutschland aber den Entwicklungen hinterher – wie die Überschwemmungen im Ahrtal im vergangenen Sommer schmerzlich verdeutlichten, kommentiert Daniela Jacob, Klimaforscherin und Leiterin des Climate Service Center Germany in Hamburg. Ohne mehr Bemühungen bei der Anpassung, könnte es künftig noch mehr Opfer von Extremwetter geben – und die Verluste und Schäden Steuerzahler, Hausbesitzer und Kommunen teuer zu stehen kommen.
»Ich habe mich sehr über die Klarheit des Weltklimaberichts gefreut«, so Jacob. »Endlich wurde deutlich gemacht, dass Klimawandel, Ökosysteme und unser menschliches Überleben zusammenhängen.« Wer die Natur nicht schütze, schade auch dem Menschen.

Waldbrand in Nordrhein-Westfalen
Foto: Sascha Rixkens/ dpa»In Deutschland leben wir in einer Gesellschaft, die eine Infrastruktur hat, die Mitte des 20. Jahrhunderts geplant und angelegt wurde. Das hat damals Sinn ergeben, ist heute aber nicht mehr zeitgemäß«, so Jacob. Es sei höchste Zeit, die Klimarisiken auch hierzulande in allen Bereichen mitzudenken – egal ob es um die Kühlung von Altenheimen bei Hitzewellen oder den Hochwasserschutz von Siedlungen und Fabriken an Flüssen geht. »Das ist sogar eine Chance für mehr Lebensqualität, aber auch für Innovation und Arbeitsplätze«, so die Anpassungsexpertin.
»Wir sind in Deutschland schlecht auf Extremwetter vorbereitet«
Das bestätigen auch langjährige Experten des deutschen Katastrophenschutzes. »Die Frequenz von solchen extremen Ereignissen wird höher, und wir sind schlecht darauf vorbereitet«, sagt Albrecht Broemme , Ehrenpräsident des Technischen Hilfswerks THW und ehemaliger Landesbranddirektor von Berlin. »In Deutschland haben wir noch nicht verstanden, dass wir nun in einer neuen Zeit leben – genauso wie wir nicht begriffen haben, wie fragil der Frieden in Europa ist, unterschätzen wir auch die Klimakrise.«
Albrecht Broemme, ehemaliger Direktor des Technischen Hilfswerks THW
Der deutsche Katastrophenschutz müsse sich ernsthaft mit den Folgen der Klimakrise beschäftigen und die Worst-Case-Szenarien einmal durchspielen. Etwa eine Hitzewelle mit dauerhaft 40 Grad, die drei Monate dauert. »Dann gibt es eine Kettenreaktion von Ausfällen, die wir derzeit wohl kaum managen könnten«, glaubt Broemme. Bei einer solchen Hitzewelle würde es einen Dominoeffekt geben: Erst sinken die Flusspegel, dann müssen die Kraftwerke wegen mangelndem Kühlwasser runterfahren und schließlich muss der Strom rationiert werden. »Was passiert, wenn wir Räume nicht mehr kühlen können oder alte Menschen in ihren Wohnungen verdursten?«, fragt der Katastrophenexperte.

Waldbrand bei Treuenbritzen im Jahr 2018
Foto: HANNIBAL HANSCHKE/ REUTERSDas alles ist laut Broemme – und dem heute veröffentlichten Bericht – längst keine Schwarzmalerei. Es ist eher eine Frage der Zeit, wann so ein Szenario auch in Deutschland eintritt.
In den USA ist solch ein Bewusstsein schon längst da. Dort haben Waldbrände und extreme Hitzewellen in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass es mehr Vorsorge gibt. Längst gibt es dort etwa Kühlzentren. Solche »Cooling-Centers« sind mit Klimaanlagen gekühlte Räume im Rathaus oder örtlichen Behörden, die in einer Hitzewelle für Schutzbedürftige offenstehen.
In Deutschland fehlt es an so ziemlich allem: Feuerwehrleute bräuchten beispielsweise eine Fortbildung. »Die Brände in der Klimakrise sind viel stärker und lang anhaltender«, so Broemme. Es müsse nicht nur über Hubschrauber, sondern auch über Löschdrohnen oder Flugzeuge gesprochen werden. Es fehle aber auch an Koordination. Im Fall des Falles würden das Rote Kreuz, der Katastrophenschutz und die Nachbarschaftshilfe nicht ineinandergreifen.
Die Menschen müssten auch lernen, sich bei solchen Extremsituationen um ihre Nachbarn zu kümmern: »Der Staat kann sich in einer solchen Extremsituation nicht um alles kümmern«. Doch dafür müsse die Realität der Klimakrise erst mal bei allen ankommen. »Diese Probleme sind lösbar – aber wir müssen sie dringend angehen«, so der pensionierte Feuerwehrmann.