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Kreativität und Schizophrenie: Forscher enttarnen das Gen der Genies

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Kreativität und Schizophrenie Forscher enttarnen das Gen der Genies

Genie und Wahnsinn liegen näher beieinander als gedacht: Forscher haben ein Gen entdeckt, das gleichermaßen für Kreativität und für Verrücktsein verantwortlich zu sein scheint. Positiver Nebeneffekt: Der Erbfaktor macht seinen Menschen sexy.

Große Männer sind wie Explosivstoffe in Zeiten, in denen lange nichts explodiert. Der zufälligste Reiz genügt, damit sich ihr Genie entlädt - schreibt Friedrich Nietzsche in der "Götzen-Dämmerung". Genies, Künstler und Erfinder sind von Geheimnissen umweht und von Legenden umrankt. Ihr Leben besitzt für die Normalen Faszinationskraft und Aura. Nicht selten zahlen sie aber mit einer Nähe zum Verrücktsein. Das Leben des Mathematikers John Forbes Nash zeigt den Balanceakt zwischen Genie und Wahnsinn, er bekam den Wirtschaftsnobelpreis für die Erweiterung der Spieltheorie, doch verbrachte er Jahre mit paranoider Schizophrenie in der Psychiatrie.

Das Genialische, die herausragende Begabung hat scheinbar eine Schattenseite: Das Versinken in die Nacht des Wahnsinns, in die Gedankenfluten der Schizophrenie. Der Dichter Wilhelm Heinrich Wackenroder beschrieb ein Genie, das beim Schöpfen außer sich gerät, und versuchte, seine Reizoffenheit in Worte zu fassen. Auch Platon sah die Gefährdung und nannte es den göttlichen Wahnsinn des Genies.

Entdeckung des Genie-Gens

Auch die Genetik legt einen wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen schöpferischer Kreativität und Krankheiten wie Schizophrenie und Psychosen nahe. Nach vielen Enttäuschungen präsentierte 2002 ein isländisches Forschungsteam um den ehemaligen Harvard-Neuropathologen Kári Stefánsson seine Ergebnisse zu einem Gen , das, so vermuteten die Forscher, in einem ursächlichen Zusammenhang zur Schizophrenie stehen müsse. Neuregulin 1 (NRG1) nennt es sich, es verfügt über Signalübertragungsfunktionen zwischen Zellen und ist für ihre Interaktion verantwortlich.

Störungen der NRG1-Signalübertragung wurden von den Forschern fortan mit Schizophrenie in Verbindung gebracht, zumindest mit Aufmerksamkeitsstörungen. Die eigentliche Entdeckung folgte sieben Jahre später. Eine Studie der renommierten Semmelweis-Universität in Budapest zeigte in der Fachzeitschrift "Psychological Science" : Nicht nur für ein höheres Schizophrenierisiko sollte die Genvariante von Neuregulin 1 stehen, sondern auch für Kreativität.

Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler, Erfinder - alle Träger einer Genvariante? Die Rede vom schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn schien ein Fundament zu bekommen. Untersuchungen des Wissenschaftlers Szabolcs Kéri begründeten den Verdacht, dass Neuregulin 1 die Verarbeitung von Informationen im Gehirn hemmt, aber auch frei für Ideen macht. Kéri hatte herausgefunden, dass es zwei Varianten des Gens gibt, die unterschiedliche Ausprägung sei entscheidend.

Bei der Hälfte der Europäer entdeckte der Neuropathologe eine Kopie des Gens, bei ungefähr 15 Prozent waren es zwei. Diese Menschen waren nicht nur anfälliger für Schizophrenie, sondern auch kreativer. Man fragte sie: Stellen Sie sich vor, von den Wolken würden Fäden bis zur Erde herabhängen. Was würde geschehen? Die Träger der beiden Gene beeindruckten mit deutlich originelleren und komplexeren Ideen.

Anstelle von erwartbaren Antworten wie "Ich würde hochklettern und die Fäden dafür nutzen" oder "Ich würde das Wetter ändern" gingen die Antworten der Testpersonen mit der Genvariante in eine andere Richtung. "Ich würde eine Decke stricken, um die Erde zu bedecken und zu schützen", sagte einer. Ein anderer: "Ich würde spezielles und frisches Wasser in eine Wolke injizieren, wenn die Wolken verschwänden, kämen die Leute durch die Fäden immer noch dran."

Intelligenz und Gedächtnis entscheiden

Verblüfft stellte Kéri fest, dass eine genetische Variante, die mit Schizophrenie assoziiert war, erstmals auch positive Eigenschaften besaß. Er übertrug den Gedanken auf das Prinzip der Evolution, denn bei einigen Menschen führte die Variante offenbar zur schizophrenen Gedankenflucht, zu Halluzinationen und Wahnideen, bei anderen setzte sie ein freieres Denken und ungewöhnliche Gedankenkombinationen in Gang. Was unterschied diese Menschen?

Kreative, darin sind sich die Forscher einig, denken assoziativer, weniger fokussiert, offener. Ihre Gehirne filtern weniger stark Wesentliches von Unwesentlichem und ähneln denen von Kranken - aber mit einem entscheidenden Unterschied. Was den Schizophrenen überschwemmt, wird vom Erfinder geordnet, zu sinnstiftenden Einheiten kombiniert, sein Gehirn "bündelt".

Der Post-it etwa wurde durch einen Gedankenblitz im Kirchenchor erfunden. Dem Chemiker Arthur Fry kam die Eingebung, als Lesezettel aus seinem Gesangsbuch herausfielen. Plötzlich wusste er, wozu der schwache Kleber, den ein Kollege entwickelt hatte, dienen könnte. Er strich seine Zettel damit ein, das Problem war behoben.

Das sogenannte Clustern ist nichts anderes als eine Technik, den Zwang des linearen Denkens auszutricksen und kreativere Verbindungen zu suchen. Geniale Lösungen sind impulsiv gedacht und schaffen nicht selten einen neuen Ordnungsrahmen. Auch Friedrich Nietzsche schwärmte von der Formkraft des Genies über das Ungeformte. Ein Genie zwänge chaotische Reize in ein System.

Wer vom Genius geküsst und wer in den Wahnsinn gleitet, darüber, so die Vermutung der Forscher, könnten die Intelligenz und das Gedächtnis entscheiden. Träger der Genmutation mit höherer Intelligenz und besserem Arbeitsgedächtnis konnten in der Studie von Szabolcs Kéri der Schizophrenie häufiger entgehen.

Kleines Inferno im Hirn

Josef Bäuml, Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie in München, hat die Gehirne von Schizophrenen untersucht. Er beschreibt das Traumatische, Heimgesuchte, wenn ein Reiz, ein Wort, ein Geräusch unendlich viele bizarre Assoziationsketten lostritt. Ein Außenreiz entfache im schizophrenen Gehirn ein kleines "Inferno".

Schuld ist bei einem aktuellen Schub eine Dopaminausschüttung im Gehirn, die alle normalen Filterfunktionen außer Kraft setzt. Wichtige Signale werden damit nicht mehr von unwichtigen Signalen unterschieden, und ein Sturm von ungeordneten Eindrücken bricht los. Bäuml vergleicht es mit einem Raum, in dem alle Telefone, die Außenklingel und das Fax gleichzeitig schrillten.

Ein aktueller psychotischer Schub kann nicht als genial verklärt werden. Im Gegenteil: Die kalte Hand der Schizophrenie, so sagte es der verstorbene Intelligenzforscher Hans Eysenck, tötet alle Kreativität. Es sind die milden Formen psychischer Störung, die ihre Entfaltung ermöglichen. Die milde Dissoziation hat schillernde Grenzphänomene hervorgebracht. Die Romantiker Eichendorff, Hölderlin - sie werden gerne als vom Wahnsinn umwitterte Geister angeführt. Ihre logische Syntax war gelockert, sie war aber nie ganz aufgegeben, so dass sie lallen würden.

Wahnsinnig attraktiv

Vorzüge, so die Forscher, muss das kreative Schizophrenie-Gen trotz allem haben, sonst wäre es ausgestorben. Tatsächlich: Das Ergebnis einer Studie der britischen Wissenschaftler Daniel Nettle und Helen Keenoo mit 425 Probanden  zeigt: Kreative Probanden hatten zwar schizotype Eigenschaften, konnten aber auch mit einem durchschlagenden Erfolg beim anderen Geschlecht punkten. Sie wirkten sexy, hatten mehr Sexualpartner.

Befragte man Probanden, beurteilten diese die Kreativen als attraktiver als Normale. Die Magie und Faszinationskraft der genialen Menschen hatte es schon immer gegeben, die Romantiker schwärmten davon als Magnetismus und Inspiration, all die modernen Borderliner gelten als Verführer und Charismatiker. Unweigerlich denkt man an den iPhone-Erfinder Steve Jobs, durch den wir über unsere Handys streicheln, Geräte intuitiv, fast zärtlich bedienen: Er war sicher einer der Explosivstoffe unserer Zeit.

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