
Neurochirurgie Liebe Leserin, lieber Leser,
als ich die MRT-Scans aus einer aktuellen US-Studie zum ersten Mal sah, konnte ich kaum glauben, dass sie von Menschen stammen, die wie jeder andere herumlaufen, sprechen, denken. Denn dort, wo eigentlich die zweite Hirnhälfte dieser Patienten sein sollte, klafft eine dunkle Leere.
Die Aufnahmen stammen von sechs Erwachsenen, die seit Jahren mit einem halben Gehirn leben. Ärzte mussten ihnen die andere Hälfte amputieren, als die Patienten zwischen drei Monate und elf Jahre alt waren. Der Eingriff ist sehr selten und die allerletzte Behandlungsoption bei schwerster Epilepsie, die nur von einer Hälfte des Gehirns ausgeht. Ziel ist es, die gesunde Hirnhälfte zu retten. Dafür müssen die Verbindungen zwischen beiden Teilen komplett gekappt werden.
Welche Folgen der gut achtstündige Eingriff hat, ist sehr unterschiedlich und hängt unter anderem davon ab, wie sehr die epileptischen Anfälle das Gehirn bereits geschädigt haben. Viele dieser Patienten können nach dem Eingriff gehen und sprechen, sind aber auf einem Auge blind und teilweise gelähmt. Zumindest vorübergehend, denn mit der Zeit übernimmt bei einigen die verbliebene Hirnhälfte die Steuerung, ihre Nervenzellen regenerieren sich so gut, dass sie selbstständig leben können. Nicht wenige haben später ganz normale Jobs.
Die sechs Patienten, die ein Team um Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann untersucht hat, waren kognitiv bemerkenswert leistungsfähig und deshalb für die Studie ausgewählt worden. "Auf den ersten Blick merkte man ihnen ihren Befund kaum an", sagt Kliemann.
Entspannen, aber nicht einschlafen
Doch wie kann das Gehirn weiterarbeiten, wenn eine Hälfte entfernt wird? Um das herauszufinden, schoben die Forscher die Probanden in einen Kernspintomografen und baten sie, sich möglichst zu entspannen, aber nicht einzuschlafen. Laut den Wissenschaftlern ist es die erste Untersuchung dieser Art überhaupt.
Sie interessierten sich besonders für bekannte Netzwerke in Hirnregionen, die für Sehen, Bewegung, Emotionen und Wahrnehmung verantwortlich sind und sich oft über beide Hirnhälften erstrecken. Kliemann und Kollegen erwarteten, dass sich diese Schaltkreise enorm verändern müssten, wenn ein Großteil des Hirns ausfällt. Überraschenderweise stellten sie jedoch kaum Unterschiede zu vollständigen Gehirnen fest. Allerdings waren die einzelnen Netzwerke untereinander deutlich stärker verknüpft.
Dass selbst das Hirn eines Elfjährigen nach so einem Eingriff nahezu voll funktionstüchtig bleibt, ist beinahe unglaublich. Vor allem wenn man bedenkt, dass manchmal kleinste Verletzungen durch einen Schlaganfall, einen Fahrradunfall oder einen Hirntumor verheerende Auswirkungen haben können. Noch wissen Forscher nicht genau, warum das so ist. Dafür müssten sie mehr darüber wissen, wie sich Hirnzellen neu organisieren können.
Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Weil sie zeigt, was für ein außergewöhnliches Organ das menschliche Gehirn ist.
Herzlich
Ihre Julia Köppe
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Abstract
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Quiz*
Warum heißt das Gehirn eigentlich Gehirn?
Was ist eine Synapse?
Wie viele Nervenzellen stecken im menschlichen Gehirn?
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Fußnote
Vier- bis achtmal pro Minute schlägt das Herz eines Blauwals, wenn er abtaucht. Das haben US-Forscher mithilfe von Datenloggern herausgefunden, die sie den Meeressäugern anhefteten. Bei einem Tier lag die Herzrate sogar bei nur zwei Schlägen pro Minute. Nach dem Auftauchen schlug das Herz bis zu 37-mal, eine Extremleistung für das bis zu 700 Kilo schwere Pumporgan. Die variable Herzfrequenz sorgt dafür, dass der Sauerstoff für längere Tauchgänge reicht.
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* Quiz-Antworten: Der Ursprung ist wahrscheinlich das germanische Wort "hersnja", was so viel bedeutet wie das im Schädel Befindliche/ Die Verbindung zwischen Nervenzellen/ Etwa hundert Milliarden