Streit um EU-Forschungsgelder Nobelpreisträger protestieren gegen Wissenschaftspolitik

In Europa drohen Kürzungen von versprochenen Forschungsgeldern. Experten befürchten die Abwanderung einer ganzen Wissenschaftlergeneration.
Lösungswege für die großen Probleme der Gegenwart: Forscherin in einem Labor

Lösungswege für die großen Probleme der Gegenwart: Forscherin in einem Labor

Foto: Thana Prasongsin / Getty Images

Eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Pandemie betrifft sicherlich die Bedeutung von Grundlagenforschung. Wissenschaftsförderung muss eine hohe Priorität haben, wenn wir für den Kampf gegen Viren besser vorbereitet sein sollen. Im Grundsatz sieht das auch die Europäische Union so und wollte das Forschungsbudget für das wichtige "Horizon Europe"-Programm schon lange vor der Pandemie aufstocken. Damit werden nicht nur der Europäische Forschungsrat (ERC) finanziert, sondern auch weitere Programme im Bereich der Spitzenforschung.

Im Jahr 2018 sprach die Europäische Kommission von 120 Milliarden Euro, die im Zeitraum von 2021 bis 2027 in die Forschung fließen sollen. Im Vergleich zum Vorgängerprogramm "Horizon 2020", das bald ausläuft und einen Umfang von 80 Milliarden Euro hat, wäre das eine erhebliche Budgetsteigerung gewesen. Doch im Laufe dieses Jahres schrumpfte der Betrag immer mehr zusammen. Zuletzt war von 80 Milliarden Euro die Rede, die für Europas Wissenschaft bereitstehen sollen.

Dabei steht die Wissenschaft gerade erheblich unter Druck: Sie soll Lösungswege für die großen Probleme der Gegenwart aufzeigen: Klimawandel, Artensterben oder Pandemiebekämpfung. Dazu stehen Europas Forschungsstandorte in Konkurrenz zu Instituten in den USA und immer mehr in Asien.

Zusammen mit Wissenschaftlern kämpfen Abgeordnete aus dem Europaparlament nun gegen die geplanten Kürzungen. "Ohne substanzielle Erhöhungen der Forschungsprogramme wird der Forschungsstandort Europa gegenüber den USA und China massiv an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine ganze Generation an Forschern wegen fehlender Chancen ins Ausland getrieben wird", sagt Sven Simon von den Christdemokraten. Wie er befürchten auch viele weitere Experten gerade im Bereich der Spitzenforschung Abwanderungen von Wissenschaftlern an attraktivere Standorte.

Der Protest soll Brüssel doch noch zum Einlenken bewegen. Während in diesen Tagen eine Entscheidung über die Höhe der Fördergelder erwartet wird, haben Wissenschaftler einen offenen Brief geschrieben , der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Thema sensibilisieren soll. "Es wäre ein historischer Fehler, angesichts der epochalen Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie, der Klimakrise sowie fortlaufender technischer und digitaler Revolutionen, die Europäische Union als attraktiven Standort für Spitzenforschung auf Jahre zu schwächen", heißt es in dem Schreiben.

Probleme durch Corona-Lockdown

Unter den Unterzeichnern sind mehr als 60 Abgeordnete des Parlaments und allein sieben Nobelpreisträger – darunter der deutsche Biophysiker Erwin Neher (Nobelpreis für Medizin 1991) und der Exoplanetenforscher Michel Mayor (Nobelpreis für Physik 2019). Zuletzt hatten mehr als 700 Forscherinnen und Forscher gegen die Kürzungen unterzeichnet – innerhalb von wenigen Tagen. Es ist nicht der erste Protest von Wissenschaftlern, der Brüssel erreicht. Im Frühjahr hatten Forscher eine Petition gegen Budgetkürzung  für den Europäischen Forschungsrat (ERC) aufgesetzt. Sie fand inzwischen mehr als 23.000 Unterzeichner.

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Initiiert haben die Proteste zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen aus dem von der EU-finanzierten Marie-Curie-Programm: Die Epidemiologin Nathalie Conrad von der Universität Löwen in Belgien und Antonia Weberling, eine deutsche Biochemikerin, die an der Universität Cambridge die Entwicklung von Embryos erforscht. Weberling hat in diesem Jahr noch ein ganz anderes Problem. Durch die Corona-Pandemie ist sie mit ihrer Promotion in Verzug geraten.

Weil unter den Labors, die im Lockdown für Wochen schließen mussten, auch ihres war, konnte sie nicht weiter forschen. Ihre Arbeit geriet in Verzug doch ihr Stipendium, ein Teil des "Horizon Europe"-Vorgängerprogramms "Horizon 2020", nahm darauf keine Rücksicht. Es läuft aus, ohne dass Weberling ihre Arbeit zu Ende bringen kann. Weberling ist kein Einzelfall, wie sie schnell herausfand – so wie ihr geht es allen EU-Stipendiaten ihres Marie-Curie-Programms.

"Die EU scheint sich nicht bewusst zu sein, wie wichtig Grundlagenforschung ist."

Antonia Weberling, Biochemikerin von der Universität Cambridge

Während deutsche Stipendien wegen der Corona-Pandemie teils verlängert werden, sei das für europäische Wissenschaftsförderung nicht möglich, hieß es auf ihre Anfrage. "Die EU scheint sich nicht bewusst zu sein, wie wichtig Grundlagenforschung ist", sagte Weberling dem SPIEGEL. Derzeit werde sehr viel Geld für die Corona-Forschung benötigt. Es sei natürlich richtig, an der Eindämmung der Pandemie zu arbeiten. Aber gleichzeitig würden andere Wissenschaftler vergessen und so zum Opfer der Pandemie.

Inzwischen hat Brüssel in einem ersten Punkt eingelenkt: Die Forschungsarbeiten dürfen weitergeführt werden, Geld gibt es dafür aber keins. Das ändert für Weberling und viele andere Wissenschaftler nichts an ihrer prekären Situation.

Für EU-Parlamentarier Simon ein Problem: "Angesichts einer Welle von zweiten Lockdowns in diesem Winter brauchen wir mehr Geld in den bestehenden Forschungsprogrammen. Die bisherige Flickschusterei der Kommission ist keine nachhaltige Lösung für Tausende Marie-Curie-Stipendiaten", sagt er.

Bleibt die Lage so, wie sie ist, wird Weberling ihre Forschung woanders fortführen müssen und die University of Cambridge verlassen. Selbst wenn ihr das gelingt, was ohne eine Veröffentlichung ihrer Arbeit in entsprechenden Fachmagazinen nicht leicht wird: In Europa wird ihr neuer Arbeitsplatz eher nicht sein.

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