Numerator Die Mathematik der Schildkröten-Rolle

Fällt eine Schildkröte auf den Rücken, hat sie ein Problem: Kopf und Füße baumeln in der Luft. Viele Arten kommen trotzdem wieder auf die Beine. Wie sie das schaffen, haben ungarische Mathematiker jetzt systematisch untersucht.

Es war ein Gespräch mit Spätfolgen. 1995 diskutierten zwei Forscher auf einem Kongress in Hamburg über die besondere Rolle der Zahl 4 in verschiedensten Bereichen der Mathematik. Mehr als zehn Jahre später fand sich Gábor Domokos vor einem großen Terrarium in Budapest wieder. Er untersuchte die Panzer von Schildkröten und legte manche von ihnen auf den Rücken, um zu schauen, ob sich die Tiere wieder auf die richtige Seite drehen können.

Nun hat Domokos gemeinsam mit dem Mathematiker Péter Várkonyi eine Studie über die Wendetechnik von Schildkröten veröffentlicht - der vorläufige Höhepunkt einer jahrelangen Forschungsarbeit, die anfangs nur wenig mit gepanzerten Tieren zu tun haben schien.

Domokos hatte 1995 mit dem russischen Mathematiker Wladimir Igorewitsch Arnold über Gleichgewichtspunkte von dreidimensionalen Körpern gesprochen - also jene Stellen, auf denen der Körper liegen bleibt, wenn man ihn auf eine ebene Fläche legt. Ein plattgedrückter Zeppelin etwa besitzt genau vier solcher Punkte: Zwei sind stabil, die beiden an den Spitzen sind instabil. "Aber geht es auch mit weniger als vier Punkten?", fragte Domokos. "Ich glaube, ja", antwortete Arnold, "aber finden Sie's doch einfach heraus!"

Es dauerte elf Jahre, bis Domokos und Várkonyi die Aufgabe gelöst hatten. 2006 stellten sie den sogenannten Gömböc vor - die Mathematikergemeinde war begeistert. Das Gebilde sah aus wie ein von Autodesignern gestylter Wassertropfen und besaß erstaunliche Fähigkeiten: Wie man den Körper auch auf eine glatte Oberfläche legte, er kam immer auf die gleiche Weise zum Liegen – mit der dicken Seite nach unten. Der Gömböc gleicht einem Stehaufmännchen, nur dass Tricks wie zusätzliche Gewichte im Innern überflüssig sind.

Der erstaunliche Körper besitzt nur zwei Gleichgewichtspunkte – einen unten und einen oben an der Spitze. Und nur der untere ist stabil. Arnold lag mit seiner Vermutung also richtig: Es gibt auch konvexe dreidimensionale Gebilde mit weniger als vier Gleichgewichtspunkten.

Auf die Idee, den Gömböc mit Formen aus der Natur zu vergleichen, kam Domokos bei einem Spaziergang mit seiner Frau. Auf dem Weg erspähte er einen hilflos auf dem Rücken liegenden Käfer. Das Insekt ruderte mit allen Beinen, um einen kleinen Ast oder ein Blatt zu erreichen und sich so wieder in die aufrechte Lage zu drehen - vergeblich.

Der Gömböc-Trick im Tierreich

Domokos befreite das Tier aus seiner misslichen Lage, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen: "Hätte der Käfer die Form eines Gömböc, hätte er sich von ganz allein aufrichten können."

Zu Hause angekommen, recherchierte er im Internet und wurde schnell fündig. Vor allem Panzer der Sternschildkröte ähneln auf verblüffende Weise dem Gömböc (siehe Fotostrecke). Die Schutzschale ist ungewöhnlich hoch und spitz – als hätte die Evolution die Arbeit von Várkonyi und Domokos vorwegnehmen wollen.

Dass sie Tiere mal auf dem Rücken landen, kommt durchaus vor, etwa beim Liebesspiel oder beim Duell mit Artgenossen. Mit welcher Technik sich Schildkröten aufrichten, hängt von der Form des Panzers ab, berichten die beiden Ungarn im Fachblatt "Proceedings of the Royal Society B". Bei einem flachen Panzer ist vor allem ein kräftiger Hals gefragt, den die Tiere als Hebel nutzen. Je höher der Panzer ist, umso mehr hilft die Schwerkraft.

"Wir haben praktisch alle Schildkrötenarten, an die man in Budapest herankommt, einmal in der Hand gehabt", sagt Domokos im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Das seien fast 70 verschiedene Tiere gewesen. Bei 30 davon scannten die Mathematiker den Panzer ein, um ihn als 3-D-Modell am Computer genauer analysieren zu können.

20 Schildkröten mussten schließlich zum Tierversuch antreten – im Dienste von Mathematik und Mechanik. "Nur etwa jedes dritte Tier konnte sich vom Rücken auf den Bauch drehen", sagt Domokos. "Wir wollten die Tiere aber auch nicht unnötig quälen und haben ihnen nur wenige Sekunden zum Aufrichten gegeben." Wenn das nicht geklappt habe, seien die Tiere sofort wieder umgedreht worden. "Besonders schnell waren Wasserschildkröten", erzählt Domokos. "Das geht so fix, das kann man kaum fotografieren."

Sternschildkröten rollen nahezu von allein wieder in die Ausgangsposition – wie der Gömböc. Wenn sie auf dem Rücken liegen, müssen sie nur kurz mit den Beinen wackeln, damit sie den instabilen Gleichgewichtspunkt verlassen und zur Seite kippen. Zum Schluss ist noch etwas Beinarbeit erforderlich - und schon stehen sie wieder.

Mit den Beinen wackeln, mit dem Kopf drücken - fertig

Vertreter mit flachem Panzer, etwa Spaltenschildkröten, nutzen praktisch nur ihren Hals. Sie hebeln ihren Körper so weit nach oben, bis der Kipppunkt überschritten ist und sie auf die Füße rollen.

Ist der Panzer mittelhoch, wird die Aufrichttechnik etwas komplizierter: Die Schutzschale der Tiere ist ähnlich wie ein Keil geformt und besitzt neben der aufrechten Position noch zwei weitere stabile Gleichgewichtspunkte: auf dem Rücken liegend, etwa 45 Grad nach links oder rechts gekippt. In der Rückenlage müssen die Schildkröten zunächst mit Beinen und dem Kopf wackeln, damit sie nach rechts oder links rollen und auf einem der stabilen Seitenpunkte zur Ruhe kommen. Dann benutzen sie die Beine, um sich über diesen Punkt hinaus zu drücken - bis sie schließlich richtig herum stehen.

Die Aufrichttechnik von Schildkröten war für Biologen bislang kaum von Interesse. Nur bei bestimmten Arten wurde die Zeit, die ein Tier braucht, um wieder auf den Füßen zu stehen, als Maß für deren Fitness genommen.

Am meisten verblüffte Domokos, wie schlecht mancher Besitzer seine eigenen Schildkröten kannte: "Viele lagen bei ihrer Einschätzung, welche Tiere die Rolle schafft, falsch."

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