Numerator Fußball ist Glücksspiel

Auch wenn es kein Trainer hören will: Der Mitspieler, der im Fußball über den Ausgang eines Spiels entscheidet, heißt Zufall. Wie groß die Rolle von Glück und Pech tatsächlich ist, zeigen simple mathematische Simulationen der Bundesliga.

Sport ist ein Wettstreit, in dem am Ende der Bessere gewinnt. Sieht man mal von Doping, parteiischen Schiedsrichtern und befangenen Punktrichtern ab, scheint das tatsächlich zu stimmen. Aber ausgerechnet in der für viele wichtigsten Sportart der Welt, dem Fußball, gilt das nicht.

Denn Fußball ist im Prinzip nichts anderes als ein großes Würfelspiel in gigantischen, extra dafür errichteten Betonschüsseln. Und die Leute bezahlen sogar Geld dafür, zuschauen zu dürfen.

Ob Bayern oder Bremen ein Spiel gewinnt, entscheidet sich mitunter in ein, zwei kurzen Momenten eines Spiels, das immerhin 90 Minuten dauert. Da rutscht dem Abwehrspieler der Ball vom Fuß, der Stürmer steht - Intuition oder nicht - genau dahinter und macht das entscheidende Tor. Oder ein Eckball prallt im Fünf-Meter-Raum so unglücklich ab, dass er einem Torjäger genau vor die Füße fällt.

Wie sehr Glück oder Pech den Ausgang von Spielen beeinflussen, zeigt schon ein Blick in die Torstatistik. Im Schnitt fallen in einem Bundesligaspiel ungefähr drei Tore. Aufs Tor geschossen und geköpft wird natürlich wesentlich öfter, meist 15- bis 25-mal pro Mannschaft, aber in der Regel eben ohne Erfolg.

Wenn von 15 bis 25 Versuchen nur ein bis zwei gelingen, dann verstehen selbst mit Statistik auf Kriegsfuß Stehende, dass hier das Glück, oder wie der Mathematiker sagt, der Zufall, ziemlich wichtig wird.

Im Umkehrschluss müssten Sportarten, in denen mehr Punkte beziehungsweise Tore zustande kommen, weniger stark vom Zufall gezeichnet sein - also beispielsweise Basketball oder Handball. Dass dies tatsächlich stimmt, hat Eli Ben-Naim vom Los Alamos National Laboratory bereits vor zwei Jahren bewiesen - zumindest für die typischen US-Sportarten Eishockey, Basketball, Baseball oder American Football.

Underdog schlägt millionenschweres Profiteam

Seine Analyse von 300.000 Einzelspielen, darunter 43.000 aus der britischen Premier League (Fußball) ergab, dass es beim Kicken mit Abstand die meisten Überraschungen gibt. 45 Prozent aller Spiele werden vom vermeintlichen Underdog gewonnen, der laut Rangliste eigentlich verlieren müsste. Beim Basketball, wo pro Spiel von beiden Teams Dutzende Körbe geworfen werden, beträgt die Überraschungsquote gerade mal 36 Prozent. Genauso vorhersehbar ist American Football (NFL) mit 36 Prozent. Die Eishockeyliga NHL kommt auf 41 Prozent, bei Baseball gewinnen immerhin schon 44 Prozent aller Spiele die Underdogs.

"Die gerechteste Ballsportart auf der Welt ist Tennis", sagt Metin Tolan von der Universität Dortmund, der die Physik des Fußballspiels sogar in Vorlesungen thematisiert. "Beträgt der Leistungsunterschied zweier Tennisspieler nur zehn Prozent, dann gewinnt zu 95 Prozent der Bessere." Im Fußball sei das ganz anders. Im Pokal könne eine drittklassige Mannschaft ein Bundesligateam schlagen.

Handball und Basketball seien mit Tennis jedoch nicht ganz vergleichbar. "Hier sind die Tore korreliert", erklärt Tolan im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, sie sind also statistisch nicht voneinander unabhängig. Wenn ein Treffer erzielt werde, bekomme der Gegner den Ball und könne mit großer Wahrscheinlichkeit selbst den nächsten Treffer erreichen. Deshalb sei der Häufigkeitseffekt nicht so groß, wie man ihn bei einer Sportart erwarten würde, in der 60 Tore fallen.

Der Fußball wird hingegen vom Zufall beherrscht. Tolan hat die Fußball-Bundesliga auf eine Art simuliert, wie es wohl nur respektlose Physiker tun können. Er postulierte kurzerhand, dass der Ausgang jedes einzelnen Spiels allein vom Zufall abhängt. Einzige Einschränkung: Jedes 4. Spiel endet unentschieden, so wie es statistisch gesehen in den Profiligen auch der Fall ist.

Alles Zufall: Die gewürfelte Bundesliga

Wie sieht die Tabelle einer solchen Statistik-Liga nach 34 Spieltagen aus? Als Laie glaubt man zunächst, dass alle 18 Mannschaften nahe beieinander liegen müssten, schließlich hat keines der Teams einen Vorteil, wenn die Spielausgänge gewürfelt werden.

Doch das Ergebnis der Simulation überrascht: Die Tabelle einer solchen Zufallsliga unterscheidet sich kaum von jener der Bundesliga - siehe Fotostrecke oben. An der Spitze steht ein Team mit klarem Vorsprung. Auch das Mittelfeld und der untere Tabellenteil ähneln einer echten Bundesliga-Tabelle auf verdächtige Weise.

"Wir haben das hier auf die Spitze getrieben", sagt Tolan. Aber anzunehmen, dass der Ausgang eines Spiels allein vom Zufall abhängt, sei keinesfalls absurd: "Wir alle wissen: Es gibt Glück und Pech im Fußball." Ein gutes Beispiel für Pech seien die Spiele des HSV in den vergangenen Monaten gewesen. Im Vorjahr weit oben in der Tabelle, dann ganz unten - "hier sieht man, wie es von einer Richtung in die andere schwappen kann". Und derzeit schwappt es offensichtlich beim HSV wieder zurück - das Team gewann die letzten beiden Spiele.

Perfekt ist das Zufallsmodell der Bundesliga freilich nicht, wie auch Tolan einräumt. Zufallstabelle und echte Tabelle ähneln zwar einander, unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen statistischen Parameter. Die statistische Fluktuation der erreichten Punktzahlen, auch Standardabweichung genannt, ist in der Realität größer als im Zufallsmodell. Die Streuung der Punktzahlen ist in der Realität also größer als im Modell, was dafür sprechen könnte, dass es wohl doch Leistungsunterschiede von Mannschaft zu Mannschaft gibt.

Alles schwankt

Deshalb hat Tolan das Modell verfeinert. Er nahm an, dass der Mittelwert der Punktzahl nach 34 Spieltagen nicht für alle Mannschaften gleich ist (wie beim Zufallsmodell), sondern dass es wegen unterschiedlicher Spielstärke Unterschiede gibt. Allerdings unterliegt die Punktzahl einer Mannschaft nach wie vor Schwankungen von Saison zu Saison, sie genügt einer Normalverteilung, auch Gaußverteilung genannt. Wie flach die Glockenkurve verläuft, hängt von der Fluktuation ab.

Die Bundesligatabelle entspricht somit vielen Glockenkurven, die nebeneinander auf der Achse mit den Punktzahlen liegen - siehe Fotostrecke. Klar ist deshalb auch: Eine Mannschaft mit höherer Spielstärke muss nicht besser abschneiden als eine Mannschaft mit niedrigerer Spielstärke.

Die Frage, ob eine Mannschaft verdient Meister geworden ist, lässt sich mit diesem Modell sogar beantworten. "So kann man Glück und Pech messen", erklärt Tolan. Die Frage laute: Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist der Meister die stärkste Mannschaft? Das auszurechnen, erfordert lediglich Grundkenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Ein Extrembeispiel ist die Bundesligasaison 2001/2002, in der die ersten drei Teams nur zwei Punkte auseinander lagen:

Bundesliga 2001/2002

Mannschaft Punkte Wahrscheinlichkeit, die beste Mannschaft zu sein
Dortmund 70 33 Prozent
Leverkusen 69 28 Prozent
München 68 24 Prozent

Ein Jahr später siegte Bayern München mit 16 Punkten Vorsprung, war jedoch trotzdem mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel nicht die stärkste Mannschaft:

Bundesliga 2002/2003

Mannschaft Punkte Wahrscheinlichkeit, die beste Mannschaft zu sein
München 75 83 Prozent
Stuttgart 59 6 Prozent
Dortmund 58 5 Prozent

Trotz all dieser für manche Fußballfans wohl ernüchternden Fakten: Wie das nächste Bundesligaspiel ausgeht, lässt sich mit Tolans Modellen nicht vorhersagen, denn diese arbeiteten mit ja Wahrscheinlichkeiten. Es lohnt sich also weiterhin ins Stadion zu gehen oder sich vor den Fernseher zu setzen - und sei es nur, um die Launen des Zufalls zu verfolgen.

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