Optische Täuschungen Blick in die Zukunft trickst das Auge aus

Der Mensch kann in die Zukunft blicken - wenn auch nur eine Zehntelsekunde. Doch wie sich nun herausstellt, ist genau diese Fähigkeit des Gehirns Schuld daran, dass wir immer wieder auf optische Täuschungen hereinfallen.

Unser Blick in die Zukunft ist kurz. Zwar dachte Nostradamus, er könne Vorhersagen für mehrere Jahre machen, aber der Mensch bringt es erwiesenermaßen nur auf eine Zehntelsekunde. Das allein hilft schon, dass ein Ball nicht ins Gesicht fliegt, sondern die Hände ihn gezielt auffangen und dass man sicher eine Treppe hinaufsteigen kann.

Doch genau diese hellseherischen Fähigkeiten des Menschen locken ihn immer wieder in eine Falle: Sie sind der Grund, dafür, dass wir auf optische Täuschungen hereinfallen, sagt der US-Forscher Mark Changizi vom Rensselaer Polytechnic Institute in New York und stellt damit in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals "Cognitive Science" eine umfassende Theorie zu visuellen Illusionen auf.

Bislang konnten theoretische Modelle nur eine oder wenige optische Täuschungen erklären. Changizis Hypothese aber soll bis zu 50 verschiedene Illusionen begründen. Das Kernstück seiner Annahme ist der besagte kurze Blick in die Zukunft. Er kommt nach Changizis Ansicht dadurch zustande, dass die menschliche Netzhaut Licht erst eine Zehntelsekunde nach seinem Auftreffen wahrnimmt. Das Gehirn versucht die zeitliche Lücke zu kompensieren, indem es anhand aller eintreffenden Informationen ein Bild entwirft, das genau eine Zehntelsekunde in der Zukunft liegt. "Illusionen entstehen, wenn unser Gehirn versucht, die Zukunft zu erkennen, das Ergebnis aber nicht mit der Realität übereinstimmt", erklärt Changizi.

Das gleiche passiert bei zahlreichen optischen Täuschungen: Bei der sogenannten Hering Illusion etwa handelt es sich um einen zentralen Punkt, von dem strahlenförmig Linien nach außen führen. Darüber ist ein Raster jeweils parallel zueinander verlaufender horizontaler und vertikaler Striche gelegt. Beim Anblick der Formation suggerieren die im Fluchtpunkt zusammenlaufenden Linien dem Gehirn eine Vorwärtsbewegung. Weil der Betrachter sich aber nicht bewegt und auch die Figur statisch ist, entsteht eine falsche Wahrnehmung: Das darüberliegende Raster wirkt in der Mitte, als seien die Linien nach außen verbogen.

Das dazu passende Pendant in der Realität lässt sich beschreiben, wenn man durch einen Türrahmen - also zwei vertikale Linien - geht. Durch die Bewegung scheinen sich diese ebenfalls nach außen zu krümmen, wenn wir uns nähern, weil das Gehirn versucht vorauszuberechnen, was in naher Zukunft passiert.

Auch die optische Täuschung, die ein symmetrisches Schachbrett auslösen kann, erklärt Mark Changizi mit seiner Theorie über Zukunftsvisionen. Lehnt man sich beim Ansehen nach vorne, scheint sich das Bild auszubeulen. Durch die Bewegung entwirft das Gehirn nach Changizis Theorie ein Bild, wie es in der Zukunft aussehen sollte. Da dieses nicht mit der Realität übereinstimmt, entsteht die optische Täuschung.

Changizi hat sich verschiedene visuelle Illusionen vorgeknöpft und 50 von ihnen seiner Theorie zugeordnet. Dazu zählen optische Täuschungen, die durch unterschiedliche Kontraste oder verschiedene Größenverhältnisse zustande kommen. Auch zeitlich aufeinanderfolgende Darstellungen verursachen visuelle Illusionen: Zeigt man einem Betrachter nacheinander zwei Punkte auf einem Bildschirm, von denen der eine links und der andere rechts zu sehen ist, so nimmt der Betrachter eine Bewegung zwischen ihnen wahr, obwohl keine vorhanden ist.

Auch im Alltag kommen ähnliche Fehler vor, die zu optischen Täuschungen führen: Wenn ein Golfball über den Rasen rollt und im Loch verschwindet, nimmt das Gehirn mitunter wahr, dass der Ball auf der anderen Seite des Loches weiterrollt. "Aber das passiert insgesamt ziemlich selten", sagte Changizi zur "New York Times". "Unser Gehirn ist normalerweise ganz gut darin, solche groben Fehler zu vertuschen."

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