Professor über Peter Scholze als Schüler "So jemanden habe ich noch nie erlebt"

Peter Scholze in seinem Büro in Bonn (Juni 2018)
Foto: Volker Lannert / Universität BonnEr ist gerade mal 30 Jahre alt und spätestens nun ein Superstar der Mathematik. Peter Scholze aus Bonn hat die Fields-Medaille bekommen, die höchste Auszeichnung seines Fachs, die nur alle vier Jahre verliehen wird.
Einer seiner ersten Förderer war Klaus Altmann von der Freien Universität Berlin. Altmann lehrt dort seit 2002 als Mathematikprofessor. Noch heute staunt der Wissenschaftler über die Begegnungen mit dem Ausnahmetalent, die ganz anders abliefen, als er es erwartet hatte.
SPIEGEL ONLINE: Peter Scholze hat Sie als wichtigen Mentor bezeichnet. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Altmann: Scholze besuchte als Talent einen Mathezirkel an seiner Spezialschule in Berlin. Die Leiterin des Kurses erzählte mir, sie habe da einen ganz tollen Schüler, dem sie einfach nicht mehr gewachsen sei, und der weiterführende Anregungen braucht. Dann hat sie ihn zu mir an die FU geschickt. Scholze war damals 16 Jahre alt.

Klaus Altmann, Jahrgang 1957, ist seit 2002 Mathematikprofessor an der FU Berlin und leitet die Arbeitsgruppe Algebraische Geometrie. Altmann besuchte als Schüler das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Berlin - wie später auch Peter Scholze.
SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie ihn erlebt?
Altmann: Wir haben ein bisschen geredet - und dann habe ich ihm ein Lehrbuch für Studenten gegeben und gesagt, er solle sich die ersten ein, zwei Kapitel anschauen. Fragen könnten wir dann beim nächsten Treffen besprechen. Nach zwei Wochen kam er dann zu mir und hatte das ganze Buch gelesen. Er erklärte mir, was nicht ganz okay wäre in dem Buch und was man besser machen müsste. Mit 16 Jahren - das war schon sehr erstaunlich.
SPIEGEL ONLINE: Hat Scholze dann bei Ihnen studiert?
Altmann: Nein, so kann man das nicht sagen - wir blieben einfach in Kontakt. Nach unserem ersten Gespräch nahm ich ihn mit in mein Forschungsseminar. Anschließend habe ich ihn gefragt, wie viel er verstanden hat. Er meinte: nicht viel. Weil er viele Grundbegriffe nicht kannte, die im Seminarvortrag verwendet wurden. Ich habe ihm dann in ein paar Minuten die meisten dieser Begriffe erklärt. "Jetzt ist alles klar", sagte er dann plötzlich. Er muss diese 90 Minuten also irgendwie schon komplett gespeichert haben, bevor er sie genau verstehen konnte. Und nachdem die Lücken gefüllt waren, konnte er alles abrufen und zusammensetzen. Da bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, wie er Sachen verarbeitet. Scholze hat vielleicht so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis für Mathematik, er macht sich auch kaum Notizen.
SPIEGEL ONLINE: Wie lief das Mini-Studium von Scholze bei Ihnen denn ab?

Mathematiker Scholze
Foto: Volker Lannert / Universität BonnAltmann: Er war fast jede Woche da. Er ist in mein Algebra-Seminar gekommen und hat dort Vorträge gehört und selbst vor meinen Diplomstudenten und Doktoranden Vorträge gehalten. Dass ihnen ein 16-Jähriger etwas beibrachte und erklärte, war für die 25-jährigen Studenten psychologisch nicht immer ganz einfach.
SPIEGEL ONLINE: Und wie ist Scholze mit dieser Situation umgegangen?
Altmann: Es war für ihn scheinbar keine besondere Situation. Nicht nur, dass er ein Ausnahmetalent in Mathematik ist - er ist auch eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Er hat Dinge so erklärt, dass die 25-Jährigen nicht pikiert waren, sondern begeistert. Scholze hatte eine exakte Vorstellung davon, was die anderen wussten und was nicht und wie er ihnen etwas erklären muss, damit sie es verstehen können. Das war für ihn völlig selbstverständlich und für mich unglaublich faszinierend. So jemanden habe ich noch nie erlebt.
SPIEGEL ONLINE: Wurde es Scholze dann nicht irgendwann langweilig bei Ihnen?
Altmann: Ich hoffe nicht. Er ist aber auch weit entfernt von jeglicher Arroganz und hätte mich das nicht spüren lassen. Aus seiner Sicht müssten die Studenten und selbst die Dozenten und Professoren ja eigentlich alle Nichtskönner sein, weil er ihnen intellektuell so weit voraus ist. Aber so sieht er das nicht - er ist völlig bodenständig. Das Klischee vom weltfremden, in sich gekehrten Mathematiker mag bei manchen zutreffen - bei ihm ist es völlig falsch.
SPIEGEL ONLINE: Was macht Scholze als Mathematiker so besonders?

Scholze 2016 nach Erhalt des Leibniz-Preises
Foto: Soeren Stache/ picture alliance / dpaAltmann: Er überschaut komplizierte Probleme mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Und er hat eine wahnsinnige Auffassungsgabe. Es gibt ein Standardbuch über algebraische Geometrie, das habe ich Scholze gegeben. Es ist sozusagen unsere Bibel. Selbst für viele Doktoranden ist es schwierig, diesen Text vollständig durchzuarbeiten. Scholze hat mir gesagt, dass er das Buch während des Deutschunterrichts gelesen hat. Und gelesen heißt bei ihm dann auch verstanden.
SPIEGEL ONLINE: Aber Sie als Matheprofessor kriegen das doch auch hin.
Altmann: Wenn ich ein mir unbekanntes Mathematikbuch durcharbeite, dann lese ich eine Zeile oder zwei, lege das Buch zu Seite, nehme einen Stift, rechne ein bisschen und schaue, was damit gemeint sein könnte. Und nach einem halben Tag, überspitzt gesagt, lese ich bei der dritten Zeile weiter. Die Informationsdichte in Mathematiktexten ist sehr hoch. Scholze hingegen liest das einfach so wie einen unterhaltsamen Roman durch. Aber nicht oberflächlich, er versteht es bis ins letzte Detail. Man könnte sagen: Mathematik ist seine zweite Muttersprache, sein Gehirn kann die komplizierten Aussagen ohne mühsame Verarbeitung und Übersetzung direkt aufnehmen. Das bedeutet aber nicht, dass er nur Mathematik im Kopf hat. Scholze hat auch ein ausgezeichnetes Abitur gemacht.
SPIEGEL ONLINE: Das alles liegt ja schon 13, 14 Jahre zurück. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?
Altmann: Ja, wir sehen uns noch zu vielen Gelegenheiten. Wir hatten zuletzt gerade eine Sommerschule für ausgewählte Studenten in Bukarest organisiert mit vier prominenten Dozenten - und Scholze war einer davon. Wenn man ihn fragt, ob er helfen kann, ist er mit vollem Einsatz dabei.