Philosophie Wie Mensch und Tier denken

Der Mensch hält sich für das am höchsten entwickelte Lebewesen. Zurecht? In einem edition-unseld-Essay lotet der Philosoph Reinhardt Brandt aus, was Denken, Kommunikation und Urteilen auszeichnet. Auf die Frage, ob Tiere denken können, findet er eine klare Antwort.

Man rechnet im Alltagsverständnis und in der Biologie mit Zuständen und Fähigkeiten von Tieren, die nicht nur körperlich-materiell sind wie die Eigenschaften der Steine und Billardkugeln oder vegetativ wie die der Pflanzen; Tiere haben nach einem allgemeinen Urteil oder Vorurteil über diese Eigenschaften hinaus ein ihren individuellen Bewegungen angepasstes Wahrnehmungssystem, sie äußern Lust- und Schmerzempfindungen und können verzweifelt sein, sie träumen offenbar wie wir, es gibt kluge und dumme Individuen in bestimmten Gattungen, Tiere sind zerstreut oder konzentriert, sie leben in einer Medienwelt, senden und empfangen Zeichen und verbinden diese miteinander, sie basteln einfachste Werkzeuge, werden wütend, wenn ihnen etwas misslingt, sie bilden Hierarchien in ihren jeweiligen Sozietäten, sie streiten und versöhnen sich, sind stolz und unterwürfig, sie haben ein diesen Fähigkeiten entsprechendes Bewusstsein und Selbstbewusstsein; die Tierpsychologie wird heute ergänzt durch die Psychotherapie von Tieren.

Über die genannten Fähigkeiten verfügt auch der Mensch. Gehört jedoch zu den mentalen oder psychischen Kompetenzen irgendwelcher Tiere auch das Denken? Wir kennen das Denken als eine von uns ausgeübte mentale Tätigkeit; von ihr fordern wir, dass sie dazu in der Lage ist, Urteile mit drei Eigenschaften zu bilden: Sie müssen sich auf etwas Urteilexternes beziehen können, entweder bejahen oder verneinen, und sie müssen wahr oder falsch sein können. Diese drei Bedingungen werden unter anderem verwirklicht in der formalen Struktur "S ist / ist nicht P", "Der Hut ist / ist nicht dreieckig". Das Prädikat "dreieckig" bezieht sich nicht auf das Wort "Hut", sondern auf ein bestimmtes, durch "Hut" bezeichnetes Ding im Raum. Hätte das Urteil nicht diese deiktische Funktion, könnte allenfalls der Satz: "Hut hat 3 Buchstaben" wahr oder falsch sein; daran delektierten sich griechische Müßiggänger und Sophisten, aber sonst kaum jemand. Das Urteil also zeigt imaginativ auf etwas, das außerhalb seiner selbst liegt. In der Aussage werden nicht Zeichen aneinandergefügt wie in den uns bekannten Lautsequenzen der Tiere, sondern Symbole so vereint, dass ihre formale Einheit auch dann besteht, wenn die inhaltliche Trennung behauptet wird.

Die Arroganz der Denker

Wenn ich sage: "Tiere können denken", dann muss ich komplementär denken oder sagen können: "Tiere können nicht denken"; das bedeutet aber, dass es eine formale Urteilseinheit gibt, die auch dann besteht, wenn die Inhalte (Tiere, Denken) getrennt werden. Die Griechen hatten in ihrer nur teilweise berechtigten Arroganz gegenüber den anderen Nationen den Verdacht, dass diese zum Denken und zur Urteilsbildung nicht in der Lage seien, sondern nur Lautzeichen (vielleicht nach bestimmten grammatischen Regeln) addieren könnten: Barbarbara (barbaroi). Es gibt jedoch keine menschliche Sprache, die nicht (wie immer geordnet) die logische Elementarform enthielte; jeder Sprecher also kennt und benutzt sie, auch wenn er sie nicht zum Gegenstand seiner Überlegung macht.

Neben dem Denken in Urteilsform gibt es andere kognitive Leistungen wie die gesteuerte oder unwillkürliche Imagination von Bildern, die Erinnerung, die Assoziation von Vorstellungen oder intentionale Akte wie die Absicht, jetzt aufzustehen; sie sollen nur zum Denken zählen, wenn sich die Urteilsform in ihnen nachweisen lässt.

Es ist gegen diese Überlegung eingewandt worden, das Denken vollziehe sich doch subjektiv ganz anders als in der hier künstlich herausgestellten Urteilsform; der Mensch habe perfekt gedacht, bevor Aristoteles seine Urteils- und Schlusslehre entwickelt habe. Die Antwort: Der Einwand wird wie jeder andere Einwand gedacht und geäußert; er hat nicht zufällig, sondern notwendig die angegebene Urteilsform. Er ist prinzipiell in jede andere menschliche Sprache übersetzbar.

Im Zentrum des ersten Teils der Untersuchung steht die genaue Analyse der universellen Urteilsform und ihrer für das Thema relevanten Voraussetzungen und Implikationen. Es lässt sich plausibel machen, dass die gesamte menschliche Welterfassung und Kultur an der Urteils- und Mathematikfähigkeit des Menschen hängt, dass sogar die eine gemeinsame öffentliche Welt eine ideelle Kreation der im Zeigen und Urteilen vereinten Aufmerksamkeit der Menschen ist. Tiere nehmen, so weit wir erkennen, an dieser Welt nicht teil als Subjekte, sondern bleiben Objekte unserer Erkenntnisse, so weit sie uns in anderen körperlichen und psychischen Fähigkeiten auch überlegen sind.

Ich zeige, also bin ich

Das Hauptstück der Untersuchung ist der Titelfrage gewidmet: Können Tiere denken? Vermutlich können sie es nicht. Den Tieren fehlen elementare Voraussetzungen oder wenigstens Vorformen des Urteils wie zum Beispiel die Fähigkeit, als Individuum die Aufmerksamkeit von anderen durch den Akt des Zeigens auf einen bestimmten, nur optisch wahrnehmbaren Gegenstand oder Sachverhalt zu lenken. Das auf etwas Entferntes referierende, blickbegleitete Zeigen geschieht mit der Hand, dem "Organ der Organe", oder dem Arm, nicht aber mit dem Rumpf oder den Beinen oder dem Kopf. Die übrigen mit Armen und Händen ausgestatteten Primaten hätten problemlos die physische Möglichkeit, diese für uns Menschen ganz einfache Handlung zu vollziehen; sie tun es jedoch nie und können es, wiewohl im Besitz der dazu nötigen Glieder, auch nicht lernen. Es wird auch nie außer vielleicht in Märchen berichtet, ein Elefant habe mit seinem physisch dazu geeigneten Rüssel auf etwas gezeigt, zum Beispiel auf einen besonders schönen Tempel oder den aufgehenden Mond. Es gibt bei den Tieren auch kein irgendwie geartetes Surrogat für das Zeigen, das den gleichen epistemischen und öffentlichen Effekt hätte.

Die Sachverhalte nun, auf die wir die Aufmerksamkeit anderer nicht durch den Blick und die Hand, sondern durch sprachliche Urteile lenken, teilen mit den gestisch gezeigten Gegenständen die Eigentümlichkeit, dass sie entfernt sein können und dass sie nicht unsere unmittelbaren Lebensinteressen betreffen müssen, beim Urteil braucht es sie nicht einmal zu geben, sei es jetzt oder überhaupt. Worüber wir urteilen, ist dem Urteil selbst so extern wie der Gegenstand des Zeigens, er ist davon im wörtlichen Sinn nicht berührt (im Gegensatz zu Gebrauchshandlungen, die sich auf den Gegenstand beziehen). Die zeigende oder urteilende Person, zweitens der Adressat oder die Adressaten, und drittens der Gegenstand, um den es geht, sind drei Elemente, die einen Raum der Öffentlichkeit aufspannen, den die Tiere nicht betreten. Der Gegenstand, auf den hingezeigt wird, ist dadurch öffentliches Objekt einer interessierten oder auch interesselosen Neugier. Nicht nur das Zeigen fehlt den Tieren, sondern auch die Neugier, speziell gibt es keine tierischen Handlungen, die sich nur als Suche nach Ursachen erklären lassen; das aufgeweckte Kind dagegen blickt und zeigt auf etwas, auf das auch die anderen sehen oder hören sollen, und es sucht zweitens nach der Ursache eines Geschehens.

Wenn Kausalität im Verhalten von Tieren eine Rolle spielt, dann immer bezogen auf das eigene körperliche Tun; Tiere können Hebel bewegen und dadurch die (vielleicht nur durch assoziierte Zeichen wie ein Klingelgeräusch vermittelte) Freigabe von Futter bewirken; aber keine der selbstbezogenen, von uns kausal genannten Tätigkeiten berechtigt zu der Vorstellung, Tiere hätten einen Begriff von kausalen Zusammenhängen.

Ja oder Nein? Der Mensch kann entscheiden

Der sprachliche Ausdruck der interessierten oder interesselosen Neugier ist die Frage. Sie ist strukturell möglich durch die vorgegebene Urteilsform, "Ist S P oder nicht?" "Können Tiere denken?" Jedes Urteil lässt sich als Antwort auf eine Frage fassen, und auf die Nachfrage folgt konsequent auch die Begründung, das Warum des Urteils. Bei dieser genetischen Ableitung der Urteilsform versuchen wir, die Integration der Verneinung in das ursprünglich nur bejahende Urteil als Produkt der korrigierenden Intervention oder Frage einer oder mehrerer anderer Personen zu interpretieren, so dass die Urteilseinheit von Bejahung oder Verneinung als Synthese einer dialogischen Situation erscheint. Zweitens: Wenn es so etwa gibt wie mentale Freiheit, sollte man sie vielleicht nicht im Willen suchen, sondern in der kontrollierbaren geistigen Möglichkeit der Überlegung von bejahenden oder verneinenden Antworten auf Fragen.

Tiere können auf nichts zeigen, sie sind partout nicht neugierig, speziell nicht kausal neugierig, und es lässt sich bei ihnen keine Kommunikation beobachten, die die Struktur von Urteilen hätte, es bleibt immer bei einer nur additiven, vielleicht grammatisch geordneten Sequenz von positiven Zeichen, die keine Möglichkeit bietet, in eine Frage oder Negation umgeformt zu werden. Zeigen, Neugierigsein und Urteilen oder Fragen kann den klügsten Tieren auch durch die härteste oder einfühlsamste Dressur nicht beigebracht werden. Wenn Elterntiere ihre Jungen zum Beispiel in der Technik des Jagens unterweisen, dann machen sie es vor und halten auch die Jungen zum eigenen Tun an; aber sie zeigen nicht auf Objekte der Fernsinne, sie weisen auf keine Ursachen und stellen ihnen keine vernünftigen oder unvernünftigen Fragen.

Umgekehrt haben isolierte taubstumme Menschen spontan eine Zeichensprache entwickelt, die sprachliche Urteilsakte der Form "S ist / ist nicht P" enthält; etwas Derartiges ist bei Tieren nie beobachtet worden. Wenn es somit höchst unwahrscheinlich ist, dass Tiere über das uns geläufige Urteilsdenken verfügen, dann lautet die Folgerung für die einschlägige Forschung, nach der mentalen Ausstattung zu suchen, die die oben genannten kognitiven oder mentalen Leistungen ohne Urteilsdenken ermöglicht, besonders dann, wenn sie denk- oder urteilsähnlich sind, wenn etwa Tiere uns oder andere Tiere zu täuschen scheinen. Aber hiermit ist bereits das Gebiet der biologischen Detailforschung betreten.

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