Psychologie Wenn der Lügendetektor lügt
Sofern die Beweise zu wenig hergeben, der Verdächtige schweigt oder Aussage gegen Aussage steht, kommt in Film und Fernsehen oft der große Auftritt für den Lügendetektor. Er soll den endgültigen Hinweis liefern - für Schuld oder Unschuld.
So beliebt wie das Gerät bei Regisseuren ist, so umstritten ist der sogenannte Polygraf bei Wissenschaftlern. Und doch wird er in der Realität eingesetzt. In den USA nutzen Firmen den Apparat bei Bewerbungsgesprächen, Kriminalkommissare drängen Verdächtige seit jeher gern mal zu einem Test.
Ermittler aus Belgien und Finnland machen es ihnen längst nach. Auch Briten und Niederländer versuchen mit regelmäßigen Detektorbefragungen, Sexualstraftäter besser zu kontrollieren. Selbst in Deutschland kommt der Lügendetektor im Gerichtssaal zum Einsatz.
Sachsen setzt auf den Detektor
Mindestens 16 Mal haben sächsische Opferhilfen, Beratungsstellen für Missbrauchsopfer und das Landeskriminalamt Sachsen seit 2013 den Einsatz eines Polygrafentests bei Gerichtsverhandlungen beobachtet. Auch Kölner Gerichte haben die Geräte genutzt.
Zwar hatte der Bundesgerichtshof (BGH) bereits 1998 entschieden , dass ein Lügendetektor in Strafprozessen "keinerlei Beweiswert" hat, sondern lediglich körperliche Vorgänge misst. 2003 wurde das Urteil auch vom 1. Zivilsenat des BGH bestätigt.
Doch wirklich verboten sind die Geräte damit nicht, die Tests dürfen nur nicht als Beweise genutzt werden. So kommt es, dass Gerichte durchaus mit Lügendetektoren arbeiten und die Ergebnisse zur Kenntnis nehmen. Nur dürfen diese Ergebnisse dann nicht in der offiziellen Begründung eines Urteils auftauchen. Zumindest in Sachsen ist das trotzdem schon passiert. Warum all das alarmierend ist, zeigt ein Blick in die Forschung.
Die Idee hinter einem Lügendetektor ist simpel: Menschen, die lügen, sind nervös. Das zeigt sich in körperlichen Reaktionen. Sie schwitzen, haben einen erhöhten Puls, atmen unregelmäßiger oder schneller. Die Theorie ist mehr als 100 Jahre alt - und auch an der Messung hat sich seither wenig verändert.
Wer sich einem solchen Test unterzieht, dem wird ein Gurt um die Brust geschnallt, um die Atmung zu messen, erhält zudem Elektroden an die Finger oder Handfläche, die messen, ob er oder sie schwitzige Hände bekommt. Um den Oberarm wird ein Blutdruckgerät befestigt.
Der Prüfer stellt dann sogenannte Kontrollfragen, die nichts mit der Straftat zu tun haben sowie solche, die genau auf diese abzielen. Ein Gerät zeichnet für jede Frage auf, wie der Körper des Befragten reagiert. Die Werte für "Haben Sie schon einmal etwas geklaut?" stehen dann neben denen für die Tatfrage "Haben Sie Ihre Tochter misshandelt?". Die Annahme: Wer lügt, zeigt bei den Tatfragen mehr Aufregung.
Lüge oder Angst?
Aber Studien, die ganz klar zeigen, dass Lügen zu Schweiß, Herzklopfen oder Schnappatmung führen, gibt es nicht. Die American Psychological Association hält die Idee, dass man die Aufrichtigkeit eines Menschen anhand von psychophysiologischen Veränderungen feststellen kann, sogar für einen Mythos.
Der Polygraf sei weniger ein Detektor von Lügen als vielmehr ein Detektor der Angst. Etwa der Angst, entdeckt zu werden, aber auch der Angst, zu Unrecht für schuldig gehalten zu werden.

Lügencheck im Film "The Sentinel" mit Michael Douglas
Foto: ddp imagesGleichzeitig geben Wissenschaftler zu bedenken, dass sich nicht jeder Straftäter von kritischen Fragen beunruhigen lässt. Wer bei den Tatfragen cool bleibt, gilt laut Detektor als unschuldig.
Wie wenig zuverlässig der Polygraf ist, zeigt schon ein Blick auf die Fälle aus Sachsen, in denen das Gerät zum Einsatz kam. Hier ging es oft um Sorgerechtskonflikte, meist bestand der Verdacht auf Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch.
Täuschung ist möglich
Das typische Szenario: Die Mutter klagt an, der Vater steht unter Verdacht. In mehreren solchen Fällen unterzogen sich beide dem Test. Dreimal ergab das Ergebnis: Beide lügen nicht. Lügt hier dann der Detektor?
Im Internet gibt es sogar Artikel und Videos, in denen ehemalige US-Cops oder Prüfer erklären, wie der Apparat auszutricksen ist. Auf die Zunge beißen, die Pobacken zusammenkneifen, sich gedanklich an einen schönen Ort versetzen: Schon verändert der Körper seine Reaktion, egal, ob jemandem eine Lüge über die Lippen ging oder nicht.
Eine Studie zeigte schon in den Neunzigerjahren: In der Hälfte aller Fälle lagen die Prüfer falsch, wenn die Befragten solche Methoden anwendeten. Und: Die Untersucher erkannten diese Täuschung nur bei jedem Achten.
Schließlich hängt es auch weniger von den Daten ab, die der Polygraf ausspuckt, sondern von ihrer Interpretation. Diese aber übernimmt der Untersucher, der zugleich die Anschuldigungen kennt - und damit kaum objektiv sein kann.
Nicht auf den Gerichtssaal übertragbar
Der Bundesgerichtshof hatte 1998 bei seiner ablehnenden Entscheidung über Detektoren sämtliche Literatur, Untersuchungen und Experimente studiert und klar Position bezogen: "Nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung ist es nicht möglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen." Auch seien Laborstudien mit enormen Trefferquoten nicht auf die echte Situation im Gerichtsaal übertragbar.
Im Video: Rechtspsychologin Gisela Klein erklärt, wie ein Polygraf funktioniert
An der Studienlage hat sich seitdem wenig geändert. Erst 2016 erschien eine Übersichtsarbeit , in der deutsche, niederländische und israelische Psychologen zu dem Fazit kommen, dass der Kontrollfragentest, wie er in vielen Ländern angewandt wird, eine schwache wissenschaftliche Basis aufweist.
"Im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit"
"Lügen oder Täuschung können nicht direkt aus emotionaler Erregung abgelesen werden", schreiben sie. Daran änderten auch neue Methoden wie Spracherkennung, Gehirnscans oder Blinzelmessungen nichts.
"Die Entscheidung des BGH ist für die Gerichte und ihre Richter richtungsweisend - noch heute", sagt Franziska Drohsel, die juristische Leiterin der Bundeskoordinierungsstelle Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. Warum sächsische Gerichte der Meinung seien, diese Rechtsprechung ignorieren zu können, erschließe sich nicht.
Machtvoller Apparat
Das Sächsische Staatsministerium für Justiz sagte dem SPIEGEL: "Letztlich entscheiden die Gerichte jeweils im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit über die Anordnung eines Polygrafentests." Aufgrund der bekannten Schwächen sei er bisher auch nur ergänzend zum Entlastungsbeweis herangezogen worden, nie aber als Tatnachweis.
Mit anderen Worten: Ein Test mit einem Lügendetektor darf nicht gegen die betroffene Person verwendet werden - aber er kann dazu führen, dass die Person entlastet wird.
Max Steller, Rechtspsychologe und ehemaliger Professor vom Zentrum für Aussagepsychologie Berlin, hält die Nutzung der Geräte generell für inakzeptabel: "Grundsätzlich neue Erkenntnisse, die die Zweifel an der Eignung der Vergleichsfragenmethode ausräumen könnten, sind in der Forschung nicht festzustellen, auch wenn zum Teil Gegenteiliges behauptet wird."

Lügendetektor im Amtsgericht Bautzen (Sachsen)
Foto: Sebastian Kahnert/ dpaIn einem der sächsischen Fälle hat er ein Gegengutachten zum Ergebnis eines Polygrafentests verfasst. Dieser Fall skizziert, wie machtvoll der Apparat trotz allem ist.
Eine Mutter hatte auf alleiniges Sorgerecht geklagt, weil ihr Mann sie körperlich und sexuell misshandelt haben sollte. Der Test ergab: Die Frau log. Steller wies in seinem Gutachten auf methodische Mängel bei der Durchführung des Tests hin, dieser sei daher nicht aussagekräftig.
Doch Stellers Befund wurde übergangen. Das Sorgerecht erhielt der Vater.