Psychologie Die Macht des Aberglaubens

Nicht nur Fußballtrainer - auch Tiere sind abergläubisch. Hinter den seltsamen Ritualen steckt eine archaische Strategie des Gehirns, die Welt zu verstehen. Wissenschaftler glauben, dass Aberglaube in der Evolution half, Gefahren zu erkennen und Probleme zu vermeiden.

Was veranlasst einen Sportler, zwei Jahre lang seine Socken nicht zu waschen? Warum klopfen Menschen dreimal auf Holz? Und warum werfen sie Salz über die Schulter oder bekommen Angst, wenn sie harmlose schwarze Katzen sehen? Der Aberglaube und seine Ursachen bereitete Wissenschaftlern lange Kopfzerbrechen. Auf der Suche nach Erklärungen für solch völlig irrational erscheinende Handlungen wurden die Forscher schließlich im Tierreich fündig.

Denn auch Tiere können abergläubisch sein: Das hatte der Verhaltensforscher Burrhus Skinner schon 1948 bei einem Experiment mit Tauben entdeckt, wie das Wissenschaftsmagazin "Bild der Wissenschaft" berichtet. Eingesperrt in eine Kiste, in die alle 15 Sekunden automatisch ein Leckerbissen fiel, entwickelten die Vögel merkwürdige, bizarr erscheinende Verhaltensweisen: Einige von ihnen drehten sich immer wieder im Kreis herum, andere streckten den Schnabel in regelmäßigen Abständen in eine bestimmte Ecke des Kastens und wieder andere machten schleudernde Bewegungen mit dem Kopf.

Skinners Erklärung war ebenso einfach wie verblüffend: Die Vögel hätten eben genau zu dem Zeitpunkt, an dem das Futter in die Kiste fiel, eine bestimmte Bewegung gemacht und diesen Zufall unbewusst so interpretiert, als habe die Bewegung das Erscheinen der Leckerei ausgelöst. Folgerichtig versuchten die Tauben daraufhin, weiteres Futter durch die gleiche Bewegung herbeizuzaubern - und wurden in ihrem neu entstandenen Aberglauben durch erneutes zufälliges Zusammentreffen von Bewegung und Futtergabe bestärkt.

Bei einem solchen unbewussten Lernvorgang, auch Konditionierung genannt, verbindet das Gehirn Vorgänge miteinander, die eigentlich völlig unabhängig voneinander stattfinden. Doch nicht nur bei Tauben entstehen Rituale und Aberglauben auf diese Weise: In Experimenten, die dem Kistenversuch von Skinner ähnelten, zeigten kleine Kinder und sogar aufgeklärte Studenten exakt die gleichen Reaktionen wie die Vögel - sie dachten sich Bewegungsabfolgen aus, mit denen sie glaubten, völlig zufällige Ereignisse hervorrufen zu können.

So unsinnig ein solches Verhalten auch erscheinen mag, hat es in einer natürlichen Umgebung doch seinen Sinn. In freier Wildbahn bestimmt das Verhalten der Tiere ja tatsächlich, ob sie bei der Nahrungssuche erfolgreich sind oder nicht. Eine positive Verstärkung durch die Konditionierung fördert also eine gewinnbringende Futtersuche.

Beim Menschen sind die Situationen zwar oft komplexer. Der zugrunde liegende Mechanismus ist jedoch derselbe. Oft stellt sich Erfolg im täglichen Leben ein, ohne dass man genau sagen könnte, welche Kleinigkeit im Verhalten nun ausschlaggebend war. Zur Sicherheit macht man es also beim nächsten Mal genauso, um den Erfolg nicht zu gefährden. Spielen zusätzlich noch Emotionen eine Rolle, verstärkt sich der Konditionierungseffekt, nicht zuletzt dadurch, dass ein festes Ritual das Gefühl vermittelt, alles unter Kontrolle zu haben.

Eines ist jedoch immer gleich: Das Gedankenmodell des Rituals oder des Aberglaubens wird selten angezweifelt, egal, wie oft es nicht das erwartete Ergebnis bringt. Eine einzige weitere Übereinstimmung dagegen wird sofort intensiv registriert und als Bestätigung gewertet - sie wird im "selektiven Gedächtnis" gespeichert.

Diese Vorgehensweise des menschlichen Gehirns, nach Zusammenhängen und Erklärungen zu suchen, bezeichnet der Psychologe Seymour Epstein von der Universität von Massachusetts als intuitives Erfahrungssystem, das völlig unabhängig vom rationalen System im Gehirn existiert. Im Gegensatz zum zielgerichteten und auf Logik aufgebauten rationalen Denken erfolgt die intuitive Denkweise automatisch, gefühlsbetont und unbewusst. Außerdem ist sie viel schneller: Praktisch augenblicklich kann das Gehirn Muster früherer Erfahrungen mit neuen Erlebnissen verbinden und Schlüsse daraus ziehen, die dann wie von selbst im Bewusstsein auftauchen.

Wegen dieses Gegensatzes sind viele Entscheidungen, die "aus dem Bauch heraus" getroffen werden, logisch nicht begründbar und oft nicht einmal nachvollziehbar. Dennoch ist das intuitive System nach Epsteins Ansicht die ursprünglichere und ältere Art und Weise, der Umwelt zu begegnen. Es habe im Lauf der Evolution geholfen, schnell Gefahren zu erkennen und Probleme zu vermeiden. Erst später entwickelte sich das rationale Denken - und mit ihm die Verwunderung über ungewaschene Socken und das Klopfen auf Holz.

Ilka Lehnen-Beyel/ddp

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