Psychologie Klicks gegen die Angst

Die Behandlung von psychischen Krankheiten wandelt sich dramatisch: Computer übernehmen die Arbeit von Psychologen und Ärzten. Online-Therapien bieten Vorteile für Patienten und Therapeuten - sind aber umstritten.
Therapeutische Hilfe: Der Computer stellt Fragen, der Mensch antwortet per Mausklick

Therapeutische Hilfe: Der Computer stellt Fragen, der Mensch antwortet per Mausklick

Foto: DB Jan Dube/ picture-alliance/ dpa

Er war zum Wunderheiler gegangen, hatte spiritistische Sitzungen besucht, in Kirchen gebetet und auf der Couch eines Psychotherapeuten gelegen. Als die Depression trotzdem nicht verschwand, suchte Udo Rölleke im Internet nach einem Mittel - und fand eine Website, die Besserung versprach. In nur drei Monaten, ohne Therapeut, mit einem automatischen Behandlungsprogramm. "Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie eine Therapie am Bildschirm funktionieren sollte. Aber ich brauchte so dringend Hilfe, dass ich mich darauf eingelassen habe", erinnert er sich.

Ein Computer als Psychologe? Was zunächst so abwegig klingt, wie Roboter als Altenpfleger einzusetzen, könnte bald Normalität sein - zumindest wenn es einfachere Seelenleiden wie Angstzustände oder Depressionen zu behandeln gilt. Das hat gute Gründe. Zum einen klagen zwar immer mehr Menschen über psychische Probleme, die Zahl der Therapieplätze aber wird immer knapper. Könnten sich Computer um die leichteren Fälle kümmern, hätten Therapeuten künftig vielleicht mehr Zeit für die schweren. Zum anderen können Therapieangebote im Netz auch Menschen helfen, die weit entfernt von der nächsten geeigneten Praxis wohnen. Wie etwa Udo Rölleke, der als Exildeutscher seit 25 Jahren in Brasilien lebt, aber dort keinen Therapeuten fand, der ihm weiterhalf. Und schließlich könnten Therapieprogramme vielleicht sogar helfen, die Ausgaben der Krankenkassen für Therapien zu senken.

Allerdings gibt es eine hohe Hürde: Bisher gilt die Beziehung zwischen Hilfesuchenden und Therapeuten in allen Schulen der Psychotherapie als Voraussetzung für eine Heilung. Der Therapeut soll den Patienten emotional unterstützen, ihn motivieren und als Sparringspartner dienen, der mit ihm für Konflikte im Alltag trainiert. Die neuen Programme zur Onlinebehandlung wären ein Paradigmenwechsel. Die Zunft steht vor der grundsätzlichen Frage: Wie viel Therapeut braucht eine Therapie tatsächlich?

"Es hieß, der Computer werde mit mir sprechen", erzählt Udo Rölleke. Jahrelang hatte der 57-Jährige seine Familie mit zwei Jobs ernährt, tagsüber Autozubehör verkauft und anschließend in seinem thailändischen Restaurant gekocht. Irgendwann brach er zusammen, wurde geschüttelt von Weinkrämpfen, kam nicht mehr aus dem Bett. Ein Psychiater verschrieb ihm Tabletten, doch wirklich besser wurde es erst mit "Deprexis" - so heißt das Selbsthilfeprogramm, auf das Rölleke gestoßen war.

Der Computer stellt Fragen, der Mensch antwortet per Mausklick

Das Programm ist das erste seiner Art in Deutschland. Es ist speziell auf Depressionen zugeschnitten, beruht auf Methoden der Verhaltenstherapie und besitzt genug künstliche Intelligenz, um auf die Patienten reagieren zu können: Der Computer stellt Fragen, der Mensch antwortet per Mausklick. Zwischendurch gibt die Website immer wieder neue Anregungen, wie man eine Strategie gegen seine Krankheit entwickeln und im Alltag umsetzen könnte. "Ich habe gleich in dem ersten Dialog Vertrauen zu dem Programm gefasst. Mir wurde erklärt, was ich tun kann, damit es mir wieder besser geht, und ich hatte gleich das Gefühl: Wow, ja, das kann ich", sagt Rölleke.

Ist Röllekes Erfolg ein Einzelfall oder die Regel? Bisher gibt es erst eine einzige, begrenzt aussagekräftige Studie zu Deprexis, das von einem Hamburger Medizindienstleister betrieben wird. Ähnliche Selbsthilfeprogramme in anderen Sprachen haben sich in Studien schon bewährt. In Großbritannien zum Beispiel empfiehlt das staatliche National Institute of Clinical Evidence in seinen Leitlinien die vollautomatische Onlinetherapie aufgrund von guten Erfahrungen in einigen Studien. Und die Krankenversicherungen zahlen sogar dafür, sofern der Arzt eine leichte bis mittelschwere Depression oder eine Angststörung feststellt. Auch in Schweden und den Niederlanden sind Onlinetherapien inzwischen fester Bestandteil der Versorgung.

Bis es hierzulande so weit ist, sind allerdings noch viele Fragen zu klären. Denn leider lassen sich Ergebnisse von Studien aus dem Ausland, die mit anderen Programmen und in anderen Sprachen durchgeführt wurden, nicht übertragen. Zudem gibt es eine rechtliche Barriere: Ärzte und Psychotherapeuten unterliegen derzeit einem "Fernbehandlungsverbot", sie dürfen eine Therapie nicht ausschließlich über das Internet durchführen. Nur eine Beratung ist online erlaubt.

Die Onlinebehandlung stößt bei tieferen Problemen an Grenzen

"Ich glaube ohnehin, dass eine reine Onlinebehandlung in vielen Fällen nicht funktioniert", sagt Sascha Hunner, Arzt und Psychotherapeut an der Panorama-Fachklinik in Scheidegg im Allgäu. Er behandelt Menschen mit Depressionen, mit Angst- und Zwangsstörungen oder auch Burn-out, die zur Behandlung in die Klinik kommen. Hunner ist überzeugt, dass die Onlinebehandlung zumindest bei Problemen mit tief liegenden Ursachen an Grenzen stößt. Eine Therapie sei in solchen Fällen ein schwieriger Lernprozess, der verantwortungsvoll begleitet werden müsse - von einem Therapeuten, der anwesend ist. "Ich muss den Patienten einschätzen können, und dazu muss ich ihn kennen", sagt Hunner.

Doch obwohl er die klassische Therapie von Angesicht zu Angesicht für unersetzbar hält, nutzt auch er das Internet: Nach der Entlassung aus der Klinik können seine Patienten im Rahmen eines Modellprojekts drei Monate lang wöchentlich an einem betreuten Internet-Chat teilnehmen, sich untereinander über die Probleme in ihrem Alltag austauschen oder darüber, ob es ihnen gelingt, umzusetzen, was sie in der Klinik gelernt haben. "Chat-Brücke" heißt das Projekt, das 2001 in Scheidegg startete. Es soll den Übergang in die Normalität erleichtern - und tatsächlich zeigt der Vergleich, dass die chattenden Patienten weniger Rückfälle erleiden als eine Vergleichsgruppe ohne weiteren Kontakt zur Klinik.

Therapeutische Beziehung am Computer

Hunner leitet die Chats und greift auch mit therapeutischem Rat ein. Er spreche jedoch nie völlig neue Themen an, sondern stabilisiere lediglich das in der stationären Therapie Gelernte, sagt er. "Alles andere wäre mir am Computer viel zu heikel."

Wie krank darf jemand sein, damit eine Behandlung allein via Internet oder sogar durch ein automatisiertes Computerprogramm nicht zum unkalkulierbaren Risiko wird? Das ist wohl die wichtigste offene Frage. Denn obwohl die ersten Internettherapien in den USA bereits Mitte der neunziger Jahre angeboten wurden, gibt es kaum systematische Untersuchungen zu der Methode. Das liegt auch an der Unübersichtlichkeit des weltweit verfügbaren Angebots: Manche Therapeuten bieten Hilfe nur per E-Mail an, andere behandeln per Chat, wieder andere setzen eine Mischform aus E-Mail und persönlichen Treffen ein. Und auch die vollautomatischen Selbsthilfeprogramme unterscheiden sich von Anbieter zu Anbieter.

Nur einige standardisierte Internetprogramme - etwa aus England und den Niederlanden - sind besser erforscht: Sie beruhen meist auf den Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie und können bei Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen tatsächlich ähnlich gut wirken wie eine klassische Behandlung beim Therapeuten. Auch bei leichten und mittelschweren Depressionen offenbaren sich heilende Effekte - das haben die wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt.

"Therapeutengestützte Selbsthilfe" als vielversprechendste Variante

Allerdings sind bei reinen Selbsthilfeprogrammen die Abbruchraten deutlich höher als bei normalen Therapien - oder bei Computerprogrammen, in die ein echter Therapeut eingeschaltet ist. "Wir messen auch bei der Therapie über das Internet einen Zusammenhang zwischen der Qualität der Therapiebeziehung und dem Erfolg der Behandlung", sagt Thomas Berger, der an der Universität Bern Onlinetherapien und Beratungsangebote erforscht. Berger hält deshalb einen Kompromiss zwischen reiner Selbsthilfe und ständiger Betreuung durch einen Therapeuten für die vielversprechendste Variante: "Therapeutengestützte Selbsthilfe im Netz" nennt er das. Dabei wird der Patient vom Computer durch ein therapeutisches Programm geführt. Begleitet wird er aber von einem Experten, der am Telefon die Diagnose stellt und sich dann via Internet ab und zu in die Therapie einklinkt. "Minimaler Therapeutenkontakt" nennen Fachleute das. "Die Patienten arbeiten ähnlich viel an sich wie in einer normalen kognitiven Verhaltenstherapie. Für den Therapeuten ist der Aufwand aber um das Vier- bis Fünffache reduziert", sagt Thomas Berger.

Einmal pro Woche hatte Peter Geisler (Name geändert) per Mail einen direkten Draht zu seinem Therapeuten Thomas Berger. Dazwischen übte der Schweizer Arzt allein mit dem Computer - um die Angst zu besiegen, die ihn befiel, wenn er Seminare leiten musste. "So schlimm, dass ich zu einem Therapeuten gegangen wäre, war es nicht, ich hatte mich mit der Angst einigermaßen arrangiert. Aber die Chance, noch besser damit umzugehen, klang verlockend", sagt Geisler.

In dem Onlineprogramm gegen soziale Phobien, das Thomas Berger an der Universität Bern evaluiert, erfuhr Geisler Grundsätzliches über die Angst. Er schrieb auf, wie sie sich in sein Leben geschlichen hatte, weil ein Lehrer ihn immer wieder gehänselt hatte, notierte, was er sich in Angstsituationen ausmalte, und machte sich klar, dass die Furcht meist unbegründet war. Vor einem virtuellen Publikum auf dem Bildschirm übte Geisler, Vorträge zu halten, ohne sich dabei ständig selbst zu beobachten. Und schließlich konfrontierte er sich auch im realen Leben mit den angstbesetzten Situationen.

Die Protokolle, die Geisler während der Arbeit mit dem Programm führte, konnte sein Therapeut einsehen und so Feedback geben und mit Anregungen Mut machen. "Für mich war der Kontakt mit dem Therapeuten sehr hilfreich, um auch bei Rückschlägen dranzubleiben. Obwohl ich ihn ja nie persönlich kennengelernt habe. Ich staune, wie gut sich solche Beziehungen über das Netz aufbauen lassen, es fällt sicher eine gewisse Hürde, die man sonst im ersten Kontakt oft hat", sagt Geisler.

Auch persönliche Vorlieben entscheiden, ob eine Onlinetherapie anschlägt

Ob diese Erfahrungen verallgemeinerbar sind, muss nun weitere Forschung zeigen. Denn obwohl erste Studien darauf hinweisen, dass sich eine therapeutische Beziehung auch am Computer herstellen lässt: Dass jeder Patient mit dem minimalen Therapeutenkontakt oder sogar ohne Therapeut klarkommt, ist unwahrscheinlich - möglicherweise entscheiden auch persönliche Vorlieben darüber, ob eine Onlinetherapie anschlägt oder nicht. "Mir kam es sehr entgegen, dass man bei der Behandlung viel schreiben musste. Das liegt mir mehr, als über mich zu sprechen", sagt Peter Geisler. Der an einer Depression leidende Udo Rölleke nahm sich diszipliniert jede Woche eine neue Sitzung mit dem Programm vor und versuchte in der Woche dazwischen, die Ratschläge umzusetzen: regelmäßig Sport zu treiben oder sich wirklich Zeit für seine Familie zu nehmen. "Ich war mein ganzes Leben lang Autodidakt, ich habe mir alles immer selbst erarbeitet. Wohl auch deshalb fiel es mir leichter, mit dem Programm zu arbeiten."

Und auch die Art der Erkrankung könnte eine Rolle dabei spielen, ob die Onlinetherapie nützt - oder sogar eher schadet: Wer ohnehin unter Einsamkeit leidet, könnte eine Computertherapie als zynisch empfinden, und wer aus Angst das Haus nicht mehr verlässt, dessen Isolation kann die Onlinetherapie noch verstärken.

Ernste psychische Krankheiten wie schwere Depressionen, Essstörungen oder Psychosen werden sich allerdings nicht allein mit ein paar Sitzungen am Rechner heilen lassen, egal, ob mit oder ohne Therapeut im Hintergrund, darin sind sich die Fachleute einig. Ganz ersetzen werden die Onlineangebote die herkömmlichen Behandlungen daher in absehbarer Zeit nicht. "Solche Therapien werden ein weiterer Baustein in der Versorgung sein, eine Ergänzung zu den traditionellen Psychotherapien. Unter bestimmten Umständen können damit Patienten behandelt werden, die die konventionelle Psychotherapie nicht erreicht", sagt Fritz Hohagen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätskrankenhaus Schleswig-Holstein. Zum Beispiel weil sie, wie der Angstpatient Peter Geisler, eine richtige Therapie gar nicht gesucht hätten.

"Sehr an Lebensqualität gewonnen"

Geisler jedenfalls hat die Hilfe aus dem Internet überzeugt. "Lag meine Angst früher vor einem Vortrag auf einer Skala von eins bis zehn etwa bei acht, liegt sie jetzt nur noch bei zwei. Ich habe wirklich sehr an Lebensqualität gewonnen", freut er sich.

Udo Rölleke ist von dem elektronischen Therapeuten geradezu begeistert. "Schon nach vier Tagen kam es mir vor, als würde mir jemand einen Rucksack abnehmen. Ich habe mich total erleichtert gefühlt", erzählt er. Ein Kampf mit sich selbst sei die Arbeit mit dem Programm manchmal gewesen, ein Prozess des Umdenkens und der Lebensveränderung, den die regelmäßige Unterhaltung mit dem Computer in Gang gesetzt habe.

Obwohl die dreimonatige Selbsthilfebehandlung eigentlich vorbei ist und es ihm besser geht, setzt er sich immer noch ab und zu an den Rechner, startet das Selbsthilfeprogramm und klickt sich durch. "Aber die Gespräche, die ich jetzt mit dem Computer führe, die mache ich, weil es auch Spaß macht."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten