Psychologie und Wahlverhalten Für wen würden Sie stimmen?

Stimmabgabe (in Venezuela, 2009): Entscheiden Wähler weit weniger rational als erhofft?
Foto: Ariana Cubillos/ APBetrachten Sie einmal die beiden freundlich lächelnden Herren unten. Beide wollten 2004 in Wisconsin einen Sitz im US-Senat erobern. Wer macht auf Sie den kompetenteren Eindruck? Tatsächlich gewann der Kandidat auf dem linken Foto, wie auch die Mehrzahl der Teilnehmer einer Studie korrekt vermutete. Rund 70 Prozent der realen Wahlsiege von Politikern lassen sich anhand solcher Probandenurteile vorhersagen. Dieses verblüffende Ergebnis präsentierte ein Team um den Psychologen Alexander Todorov von der Princeton University in New Jersey 2005 im Fachjournal "Science".
Entscheiden Wähler demnach weit weniger rational als erhofft? "Wählen ist ein Kinderspiel ", behaupten sogar zwei Psychologen von der Universität Luzern in der Schweiz. Laut ihrer Untersuchung von 2009 können selbst Grundschüler den Ausgang politischer Wahlen vorhersagen. Die Studie bestand aus zwei Teilen. Zunächst ließen die Forscher John Antonakis und Olaf Dalgas 684 Erwachsene die Porträtfotos von Kandidaten der französischen Parlamentswahlen von 2002 bewerten. Die Aufgabe: ihre Kompetenz einzuschätzen. Aus den Antworten der ahnungslosen Teilnehmer ließen sich die realen Wahlsieger mit einer Trefferquote von 72 Prozent errechnen.
Dieselben Kandidatenfotos verwendeten Antonakis und Dalgas auch im zweiten Teil ihres Experiments. Dafür spannten die Forscher 160 Erwachsene und 681 Kinder zwischen 5 und 13 Jahren ein. Sie sollten für ein Computerspiel, eine virtuelle Segeltour von Troja nach Ithaka, ihren Schiffskapitän aus einer Reihe von Porträtfotos auswählen. Auch bei dieser Aufgabe entschieden sich die jungen ebenso wie die älteren Probanden überzufällig häufig für die Sieger der französischen Parlamentswahlen. Antonakis und Dalgas schlussfolgerten: "Die Wähler beurteilen die Kandidaten offenbar anhand derselben Äußerlichkeiten wie der Nachwuchs."
Urteil binnen Millisekunden
Der Psychologe Todorov und sein Team interessierten sich darüber hinaus für die Geschwindigkeit, mit der ihre Probanden zu einem Urteil gelangten. Zu diesem Zweck variierten die Forscher in einer Studie von 2009 die Dauer, mit der sie Fotos auf einem Bildschirm präsentierten, und baten ihre Probanden um ein Urteil über die Vertrauenswürdigkeit der abgebildeten Person. Ergebnis: Schon nach 33 Millisekunden gelangte ein Teil der Versuchspersonen zu einem finalen Urteil. Bis zur hundertsten Millisekunde wurde die Einschätzung immer präziser, und nach 167 Millisekunden änderten sie ihre Meinung in der Regel nicht mehr, berichteten Todorov und Kollegen. "Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Probanden eine Meinung über die Vertrauenswürdigkeit des Kandidaten gebildet."
Treffen wir unsere Entscheidung darüber, wer uns regieren soll, ebenfalls im Bruchteil einer Sekunde? Dafür spricht eine Studie von Politikwissenschaftlern um Kyle Mattes von der University of Iowa in Iowa City aus dem Jahr 2010. Sie verwendeten erneut Fotos von Kandidaten für die US-Senatswahlen und wählten aus diesem Fundus 30 Paare gleichen Geschlechts und gleicher Hautfarbe aus. Erneut entschieden sich ihre Probanden schon nach einem rund 33 Millisekunden langen Blick auf ein Foto überwiegend für denjenigen, der auch gewonnen hatte.
Attraktivität minderte die Chancen auf einen realen Wahlerfolg
Mattes und sein Team untersuchten außerdem, welche Bewertungskriterien die besten Voraussagen erlaubten. Sie baten ihre Probanden hierfür zu beurteilen, welcher von zwei konkurrierenden Kandidaten ihnen kompetenter, attraktiver oder bedrohlicher erschien. Fazit: Der Kontrahent, dem ein bedrohlicheres Aussehen attestiert wurde, verlor in 65 Prozent der Fälle das Rennen. Allen Erwartungen zum Trotz minderte aber auch Attraktivität die Chancen auf einen realen Wahlerfolg. Dieser Effekt ließ sich vor allem auf jene Kandidaten zurückführen, die zugleich fachlich inkompetenter wirkten als ihr Widerpart. Noch schlechtere Karten hatten jene, die sowohl attraktiv und inkompetent als auch bedrohlich aussahen. Nur rund jeder Dritte von ihnen eroberte einen Sitz im Senat oder Repräsentantenhaus.
Wie genau Probanden am Konterfei von Wahlkandidaten deren Kompetenz oder Glaubwürdigkeit ablesen, ist bislang unklar. Die Ergebnisse passen allerdings kaum in die klassische Denkweise der Politikwissenschaftler. Wenn diese Wahlergebnisse analysieren, ziehen sie ganz andere Kategorien in Betracht: Wer unterstützt welche Partei - und wofür steht sie? Wie stark beeinflussen Bildungsstand und familiäre Herkunft, für welche Partei sich eine Person entscheidet und wie entschlossen sie deren Ziele vertritt?
Das jeweilige politische Engagement ist uns womöglich sogar in die Wiege gelegt. Das fand der Politikwissenschaftler Peter Hatemi von der University of Iowa 2008 heraus. Zusammen mit Kollegen vom California Institute of Technology in Pasadena analysierte er Daten von insgesamt mehr als 14.000 Zwillingen. Alle Probanden gaben Auskunft darüber, welche Partei sie bevorzugten und wie stark sie ihr anhingen. Indem sie eineiige und zweieiige Zwillinge verglichen, konnte Hatemis Team errechnen, welche Rolle die Gene dabei spielten. Fazit: Mit welcher Partei sich eine Person identifizierte, hing überwiegend von der sozialen Prägung im Elternhaus ab. Je nachdem, ob hier die Demokraten oder die Republikaner hochgehalten wurden, waren die Chancen überaus groß, dass es der Nachwuchs gleichtat. Wie stark er sich engagierte, bestimmten jedoch auch die Gene - vor allem bei männlichen Zwillingen.
Auch laut dem Politologen Douglas Oxley und seinen Kollegen beruht die politische Gesinnung eines Menschen keineswegs allein auf rationalen Erwägungen. Den Forschern von der University of Nebraska in Lincoln gelang es, die politische Haltung ihrer Probanden aus typischen Reaktionsmustern abzuleiten. Für ihre Studie aus dem Jahr 2008 rekrutierten sie 46 Teilnehmer mit ausgeprägten politischen Ansichten. Diese setzten die Forscher nun statistisch in Beziehung dazu, wie sehr die Versuchspersonen über plötzlich auftretende, laute Geräusche erschraken und wie stark sie auf Fotos von bedrohlichen Situationen reagierten. Wer sich gefasst zeigte, trat im Schnitt eher für Entwicklungshilfe, Pazifismus und strengere Waffengesetze ein. Diejenigen hingegen, die sensibel auf bedrohliche Reize reagierten, sprachen sich eher für Rüstungsprojekte, die Todesstrafe oder den Irakkrieg aus und bekundeten größeren Patriotismus. Kurzum: Konservative zeigten mehr Angstsymptome als Liberale. Oxley vermutet, dass sie deshalb eine Regierung vorziehen, die das Militär stärkt und Kriminalität rigoros bekämpft.
Der Ekel der Konservativen
Dies bestätigte ein Team um John Terrizzi von der Virginia Commonwealth University in Richmond (US-Bundesstaat Virginia) im Jahr 2010. Auch starker Ekel und die Angst vor ansteckenden Krankheiten gehen demnach mit einer eher konservativen politischen Haltung einher (siehe Grafik rechts). Terrizzis Untersuchung an rund 100 Studenten bestand aus zwei Teilen. Im ersten Schritt sollte sich die Hälfte der Probanden vorstellen, einen Film zu sehen, in dem jemand Maden verspeisen würde. Die Kontrollgruppe brauchte sich nur auszumalen, jemanden beim Salatessen zu beobachten. Anschließend sollten alle aufschreiben, wie sie sich währenddessen fühlen würden. Außerdem hielten sie auf einer Skala fest, wie stark sie sich vor dem Szenario ekelten.
Abneigung gegenüber neuen Erfahrungen
In einem zweiten Schritt galt es dann, sich zu sozialen und politischen Fragen zu äußern, beispielsweise zur Eheschließung zwischen Homosexuellen. Die Forscher ordneten jeden Probanden auf Grund seiner Einstellungen dem konservativen oder liberalen Lager zu. Siehe da: Der Gedanke an Maden verstärkte Vorurteile gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe - aber nur bei Konservativen. Terrizzi vermutet, dass Ekelgefühle sie dazu bringen, potenzielle Gefahren zu meiden - und dazu zählen vor allem Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. In diesem Befund spiegelte sich ein Unterschied zwischen dem konservativen und dem liberalen Wertesystem: Wenn Konservative moralische Urteile begründen, legen sie ihr Augenmerk stärker auf (sittliche) Reinheit als Liberale (siehe Kasten links).
Das wirkt sich auf viele Lebensbereiche aus, wie Forscher um die Psychologin Dana Carney von der Columbia University in New York 2008 berichteten. Sie erfassten Persönlichkeitsmerkmale von fast 20.000 US-Bürgern per Fragebogen. Konservative kennzeichnet demnach vor allem eine Abneigung gegenüber neuen Erfahrungen, andererseits erweisen sie sich als ordnungsliebender verglichen mit liberal gesinnten Teilnehmern. Das Bild bestätigte sich, als die Forscher die Wohnräume von 76 Studenten und die Büros von 94 Angestellten in Augenschein nahmen: Konservative entpuppten sich hier als reinlicher; Bügeleisen und Wäschekörbe fanden sich bei ihnen häufiger als bei Linken. Linke staffierten ihre Wohnräume öfter mit vielfältigen Büchern über Reisen, fremde Völker und Feminismus aus, während die Konservativen gerne ein US-Sternenbanner an der Wand hängen hatten.
Umfeld beeinflusst Wahlverhalten
Für wen wir unsere Stimme abgeben, hängt aber nicht nur vom Konterfei der Kandidaten und der eigenen Ängstlichkeit ab. Verblüffenderweise spielt auch das Wahllokal eine Rolle. Das zeigte der Psychologe Abraham Rutchick von der California State University in Northridge. Als er Gouverneurswahlen aus dem Jahr 2004 auswertete, bemerkte er, dass sich die Wähler häufiger für konservative Kandidaten entschieden, wenn sie ihr Kreuzchen in einer Kirche machten - in den USA keine Seltenheit.
Psychologen wissen seit geraumer Zeit, dass unsere Umgebung unser Verhalten beeinflusst. So tendieren Mitarbeiter in Großkonzernen häufiger zu Konkurrenzdenken als solche in kleinen Familienunternehmen, und wer für eine Bestattungsfirma arbeitet, neigt eher zu Melancholie. Die Präsenz an einem Ort ruft eben vor allem solche Gedanken wach, die wir mit ihm verbinden. In der Kirche, so Rutchicks Überlegung Überlegung, beeinflussen folglich christliche Werte das Wahlverhalten. Dies könne beispielsweise eine kritische Haltung gegenüber Abtreibungen fördern.
Diese These testete Rutchick 2010 in einem Experiment. Probanden sollten für fiktive Versicherungsfälle jeweils die Höhe der Entschädigung festsetzen. Hatte beispielsweise eine unwirksame Abtreibungspille zu einer ungewollten Schwangerschaft geführt, fiel der gewählte Schadenersatz niedriger aus, sofern sich die Probanden in einem Kirchenhaus befanden und nicht an der Universität. Das galt jedoch nicht für Entschädigungen bei Arbeitsunfällen, berichtete Rutchick. "Bei den Wahlen in kirchlicher Umgebung sind konservative Politiker und Parteien gegenüber liberalen Kandidaten im Vorteil." Der Psychologe glaubt, dass nicht wenige Bürger noch unentschlossen an die Wahlurnen treten und sich vom Umfeld beeinflussen lassen.
Eine ähnliche Studie in Deutschland böte sich an: Die Berliner beispielsweise wählen nicht nur in Schulen und Gemeinderäumen; auch in Restaurants, Eckkneipen und Autohäusern befinden sie darüber, wem sie die Geschicke der Stadt anvertrauen wollen. Womöglich lassen sich regionalen Vorlieben für die eine oder andere Partei so in einem ganz anderen Licht deuten.
Anna Gielas forscht als Gastwissenschaftlerin an der Harvard University in Cambridge (USA) über politische Psychologie.