Radarbilder Rätsel um Geisterwolke gelöst
Am 19. Juli 2005 zeigten die Radarbilder des Deutschen Wetterdienstes (DWD) Erstaunliches: Vor Hollands Nordseeküste tauchte kurz nach 12 Uhr mittags ein kleines, kompaktes Gebilde auf - offenbar ein Regengebiet. Doch das vermeintliche Unwetter wuchs mit bedrohlicher Geschwindigkeit: Innerhalb von zwei Stunden zeigte das Radar ein 300 Kilometer langes Wolkenband von den ostfriesischen Inseln bis ins nördliche Ruhrgebiet. Nur: Weder vom Boden noch von Satelliten aus waren dichte Wolken zu sehen. Das Regengebiet existierte nicht.
Als der Wetterkundler Jörg Asmus das Phänomen in den Mitteilungen der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft unter der Überschrift "Unbekannte Flugobjekte im Radar-Bild?" beschrieb, war in Zeitungen prompt von "Geisterwolken" die Rede. Ein privater Wetterdienst, der sich offenbar auf den Arm genommen fühlte, erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Der prominente TV-Wetterfrosch Jörg Kachelmann lästerte in seiner T-Online-Kolumne über "unwissenschaftliche Meteorologie" und argumentierte - streng wissenschaftlich natürlich -, der Artikel von DWD-Mann Asmus besitze die "Wissenschaftlichkeit eines abgetauten Kühlschranks".
Ursache: Militärische Übung
Experten des Karlsruher Instituts für Meteorologie und Klimaforschung haben das mysteriöse Phänomen daraufhin genauer untersucht - um die Diskussion "zu versachlichen", wie es heißt. Das Fazit der Forscher um Ulrich Blahak und Klaus Beheng: Die "Geisterwolken" waren, wie von Asmus ursprünglich vermutet, mit großer Wahrscheinlichkeit die Folge einer militärischen Übung. Flugzeuge hätten Radar-Täuschmittel, sogenannte Düppel - feine Fäden mit metallischer Hülle - in großer Menge abgeworfen, die sich dann mit dem Wind schnell über ein großes Gebiet verteilt hätten.
"Alle verfügbaren Informationen" - Wetterkarten, Radiosonden-Daten, Satellitenbilder und die Radaraufnahmen des DWD - habe man für die Untersuchung detailliert ausgewertet, schreiben Blahak und Beheng . Natürliche Vorgänge - etwa Wolkenbildung in mehreren Kilometern Höhe oder Turbulenzen bei einer Böenfront - könnten als Ursachen der mysteriösen Radarechos ausgeschlossen werden. Auch Kachelmanns These vom Regen, der den Erdboden nicht erreicht habe, ist laut Blahak nunmehr "eindrucksvoll widerlegt".
270 Kilogramm Düppel reichen aus
Als einzige schlüssige Erklärung bleibt nach Meinung der Forscher der Einsatz von Düppeln, auf Englisch auch Chaff genannt. Die Täuschkörper - benannt nach dem Ort der ersten Versuche auf dem Gut Düppel bei Berlin - waren früher Stanniolstreifen. Heute werden metallumhüllte Kunstfasern von der Dicke eines menschlichen Haars benutzt. "Sie fallen mit einer Geschwindigkeit von nur 20 bis 30 Zentimetern pro Sekunde zu Boden", sagte Blahak im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Die Radardaten zeigten, dass die Fäden im Juli 2005 in einer Höhe von sechs bis acht Kilometern abgeworfen worden seien. Deshalb sei stundenlanges Schweben über große Distanzen kein Problem.
Die Düppel-Theorie kursierte bereits im vergangenen Jahr. Von Medien befragte Experten äußerten allerdings Zweifel: Für ein Phänomen der damaligen Größe müsse man tonnenweise Düppel abwerfen. Der WDR zitierte einen anonymen Fachmann gar mit der Aussage, es seien hunderte Flugzeuge notwendig, um einen solchen Effekt zu erreichen.
"Diese Schätzungen basierten wahrscheinlich auf den allgemein zugänglichen Daten", sagte Blahak. Die Bilder, die seinerzeit durch die Medien gingen, seien aber aus den Radardaten unterschiedlicher Stationen in ganz Europa zusammengesetzt gewesen. Für jeden Bildpunkt, der in der Realität einer Fläche von vier mal vier Kilometern entspreche, habe man den höchsten Radarmesswert angenommen. "Dadurch sah die Wolke viel breiter und massiver aus, als sie war", meint Blahak.
Schmale Streifen statt dicker Wolke
Das Karlsruher Team habe sich alle Daten der einzelnen Radarstationen noch einmal angesehen. Am Ende sei die dicke Wolke in mehrere schmale Streifen zerfallen, für die insgesamt nur 2,7 bis 270 Kilogramm Düppel notwendig seien - je nachdem, wie gut die Länge der Fäden zur Wellenlänge der DWD-Radargeräte passe. Selbst 270 Kilo könnten "problemlos von einem einzigen Flugzeug in höchstens etwa 30 Minuten abgegeben werden", heißt es in der Karlsruher Studie. Zudem reflektierten Düppel die Radarstrahlung um ein Vielfaches besser als Regentropfen, weshalb schon geringe Mengen für ein starkes Echo ausreichten.
Wer die Düppel abgeworfen hat, ist indes weiterhin unklar. Die Bundeswehr jedenfalls will es nicht gewesen sein. Die deutsche Luftwaffe "kommt nicht in Betracht", versicherte ein Sprecher auf Anfrage.
Die Aufregung um die "Geisterwolke" kann Blahak ohnehin kaum nachvollziehen - denn das Phänomen der Düppelwolken sei keineswegs neu. "Bei militärischen Übungen kommt das durchaus vor", sagte der Forscher. Auch in der Meteorologie setze man Düppel ein, etwa um Luftbewegungen in Wolken zu vermessen. Zum Beweis zeigen die Wissenschaftler in ihrem Fachaufsatz Radarbilder früherer "Geisterwolken" vom Juni 2003 und Dezember 2001. Die Düppelwolke vom 19. Juli 2005 war laut Blahak nicht einmal außergewöhnlich groß. "Sie war im oberen Bereich des Üblichen."