Riechen Wie das Hirn Duftnoten unterscheidet

Unsere Nase kann Tausende von Gerüchen auseinanderhalten - auch von Substanzen, die sich chemisch kaum unterscheiden. Wie funktioniert das? Der Neurobiologe Jörn Niessing verortet im Riechhirn eine Art Kippschalter.
Feine Note: Das Aroma eines guten Weins entsteht aus der Komposition verschiedener Duftstoffe

Feine Note: Das Aroma eines guten Weins entsteht aus der Komposition verschiedener Duftstoffe

Foto: DPA

Ein vielschichtiges Bouquet aus schwarzen Johannisbeeren, ein an Bleistiftspäne erinnerndes Aroma, verfeinert durch dezente Noten von Rauch, Leder und Schokolade - Weinliebhaber verfügen über ein phantasievolles Vokabular, um ihren geliebten Rebensaft zu beschreiben. In der Tat erweist sich die Wahrnehmung von Gerüchen als faszinierend, oft aber auch als unberechenbar. So beruht die Johannisbeernote eines guten Rotweins auf einer stark verdünnten Substanz namens Mercaptomethylpentanon. In hohen Konzentrationen riecht die Chemikalie jedoch nach - Katzenurin.

Noch vertrackter wird es, wenn sich Gerüche mischen. Rosenduft etwa besteht aus einer Mixtur von über 500 Substanzen, doch schon die Komponente Geraniol allein reicht aus, um uns an eine Rose denken zu lassen. Andere Duftmischungen ergeben wiederum vollkommen neue Sinneseindrücke, die nur noch schwach oder gar nicht an die einzelnen Bestandteile erinnern.

Die Vorgänge im Gehirn, auf denen solche Phänomene beruhen, erscheinen bis heute noch vielfach rätselhaft. Klar ist nur: Gerüche werden nicht einfach von den Riechzellen in der Nase registriert. Vielmehr gibt deren Erregung nur den Startschuss für eine komplizierte Verarbeitung der Sinnesdaten in den neuronalen Netzwerken des Riechsystems.

Dabei extrahiert das Gehirn die wichtigsten Informationen aus einer Flut von eingehenden Signalen, bewertet sie und setzt sie in Beziehung zu bisherigen Erfahrungen. Zunächst muss das Riechhirn die empfangenen Sinneseindrücke auf Basis ihrer chemischen Eigenschaften in verschiedene Kategorien einsortieren. Die dabei zugrunde liegenden Prinzipien haben wir in unserer Arbeitsgruppe am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel näher untersucht. Wir stießen auf erstaunliche Eigenschaften des Riechsystems, die einige mysteriöse Geruchsphänomene erklären könnten.

Bevor das neuronale Netz des Riechhirns Geruchsdaten weiterverarbeitet, ist schon einiges geschehen. Beim Menschen tasten etwa 350 verschiedene Typen von Riechzellen in der Nase die chemische Zusammensetzung des Dufts ab und übersetzen die Sinneseindrücke in elektrische Signale - die Sprache des Nervensystems. Dieses erste Abbild der Geruchswelt wird zur weiteren Analyse im Gehirn an den sogenannten Bulbus olfactorius oder Riechkolben weitergeleitet. Hier enden die Nervenfortsätze der Sinneszellen und nehmen Kontakt mit nachgeschalteten Neuronen auf, die aufgrund ihrer an Bischofsmützen erinnernden Gestalt "Mitralzellen" genannt werden. Die Kontaktstellen erscheinen als kleine, kugelförmige Strukturen, die "Glomeruli", und bilden somit die erste Station der Geruchsverarbeitung.

Riechende Fische

Um herauszufinden, wie die Glomeruli auf bestimmte Geruchsstoffe reagieren, injizierten 1997 Rainer Friedrich und Sigrun Korsching vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen Fluoreszenzfarbstoffe in die Nasen von Zebrafischen. Die Farbstoffe leuchteten auf, sobald Kalzium in die Sinneszellfortsätze der Glomeruli einströmte; die Forscher konnten mit dieser Methode "glomeruläre Geruchskarten" anfertigen.

Dabei spiegelte die Aktivität der Glomeruli unmittelbar die chemischen Eigenschaften des Dufts wider: Verschiedene Gerüche aktivierten unterschiedliche Bereiche, wie sich am Beispiel der Aminosäuren Arginin und Alanin erkennen lässt.

Schwierig wird es, wenn das Gehirn ähnliche Geruchsstoffe, wie etwa Alanin und Serin, unterscheiden soll. Denn annähernd gleich aussehende Aktivitätskarten können nicht nur von chemisch verwandten Substanzen erzeugt werden, sie entstehen auch bei ein und demselben Duftstoff in verschiedenen Konzentrationen. Im ersten Fall muss das Riechhirn die beiden ähnlichen Eingangssignale voneinander "separieren", um die zwei Düfte als "ungleich" zu werten; im zweiten steht es hingegen vor der Aufgabe, über die Unterschiede in den Aktivitätsmustern quasi hinwegzusehen, sie also zu "generalisieren". Nur so können zwei Sinneseindrücke als identisch erkannt werden. Diese Vorgänge klingen trivial, doch stecken hochkomplizierte Verrechnungen dahinter, bei denen sich die Mitralzellen des Riechkolbens als die Hauptakteure erweisen.

Ein Duftstoff, der von den Riechzellen registriert wurde, aktiviert eine ganze Batterie von Mitralzellen. Jedes einzelne dieser Schaltelemente des Riechkolbens trägt also nur ein Bruchstück der Geruchsinformation in sich. Der neuronale Code eines Dufts spiegelt sich demnach nicht im Erregungsmuster einzelner Neurone wider, sondern in der koordinierten Aktivität vieler, teils verteilter Mitralzellen; wir sprechen daher von einem Populationscode. Allerdings sehen auch diese Kodes für chemisch verwandte Stoffe zunächst einmal sehr ähnlich aus - sie sind stark miteinander korreliert.

Wie der Riechkolben des Zebrafisches die gleichartigen Aktivitätsmuster unterscheidbar macht, konnte Rainer Friedrich - nun zusammen mit dem Hirnforscher Gilles Laurent vom California Institute of Technology in Pasadena (US-Bundesstaat Kalifornien) - 2001 aufklären: Das nachgeschaltete Netzwerk des Riechkolbens vergrößert die kleinen Unterschiede in den Populationsmustern der Mitralzellen binnen einer Sekunde. Dadurch laufen die Codierungen für jeden einzelnen Geruchsstoff auseinander, und die anfänglich ähnlichen Muster werden im Zuge dieser "Dekorrelation" unterscheidbar. Wie dies im Einzelnen vor sich geht, ist noch nicht geklärt. Wir vermuten, dass eine komplizierte Verrechnung zwischen den erregenden Mitralzellen und nachgeschalteten, hemmenden Neuronen im Riechhirn dahintersteckt.

Es stellt somit eine aktive Leistung des Gehirns dar, ähnliche Geruchsstoffe voneinander zu unterscheiden. Doch bei diesem Mechanismus ergibt sich ein Problem: Wenn das Netzwerk des Riechhirns stets kleine Aktivitätsdifferenzen verstärkt, dann sollten auch die Aktivitätsmuster unterschiedlicher Konzentrationen desselben Dufts immer größer werden. Wie kann ein Geruch in verschiedenen Konzentrationen dann aber als gleich wahrgenommen werden? Verfügt das Riechhirn über zwei verschiedene Verarbeitungswege? Oder kann ein und dasselbe Netzwerk kleine Aktivitätsunterschiede verschiedener Gerüche verstärken, während es gleichzeitig konzentrationsbedingte Abweichungen davon verschont?

Nasen unterm Mikroskop

Um diese Fragen zu beantworten, haben Friedrich und ich 2010 die Aktivitätsmuster in den Nervenzellen des Riechkolbens von Zebrafischen mit Hilfe der Zwei-Photonen-Mikroskopie gemessen. Wir präsentierten den Tiernasen entweder die Aminosäure Lysin in fünf unterschiedlichen Konzentrationen oder aber die chemisch verwandte Substanz Arginin.

Das Ergebnis war verblüffend: Während sich die anfänglich ähnlichen Aktivitätsmuster der beiden Geruchsstoffe innerhalb kurzer Zeit auseinanderentwickelten, veränderte sich der durch Lysin ausgelöste Populationscode über sehr große Konzentrationsbereiche kaum. Damit konnten wir erstmalig zeigen, dass ein Geruch in unterschiedlichen Dosen tatsächlich die gleiche Neuronenpopulation aktiviert, während ungleiche Düfte anfangs zwar ähnliche, später jedoch verschiedene Zellen anregen. Das Netzwerk des Riechkolbens ist also zu beiden Mechanismen fähig: Es kann separieren und generalisieren!

Doch diese Fähigkeit scheint begrenzt zu sein. Die Mitralzellen antworteten zwar über weite Konzentrationsbereiche des Duftstoffs annähernd gleich, extrem hohe Lysinwerte lösten jedoch Aktivitätsmuster aus, die sich deutlich von denen niedrigerer Konzentrationen unterschieden - ganz so, als ob ein vollkommen neuer Geruch vorläge. Das Ergebnis erklärt möglicherweise, warum eine Substanz in unterschiedlichen Mengen zunächst gleich riecht, aber plötzlich ganz anders duftet, sobald die Konzentration weiter ansteigt. So kann eben das in hohen Dosen übel stinkende Mercaptomethylpentanon bei starker Verdünnung einem guten Wein das Aroma schwarzer Johannisbeeren schenken.

Wie steuert das Gehirn die jeweilige Generalisierung oder Separierung? Um das herauszufinden, boten wir den Nasen unserer Zebrafische Duftmischungen an: In neun Schritten verringerten wir die Konzentration der Aminosäure Phenylalanin und gaben entsprechend mehr der chemisch verwandten Substanz Tryptophan hinzu - wir "morphten" die Duftstoffe.

Die große Frage lautete: Wann und wie ändert sich das Aktivitätsmuster der Mitralzellen? Folgen die Neurone der schrittweisen Verschiebung des Mischungsverhältnisses? Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Upinder Bhalla vom National Centre for Biological Sciences in Bangalore (Indien) von 2008 an Ratten sprachen zunächst für eine allmähliche Anpassung der Feuerrate.

Tatsächlich sahen die Antworten der Mitralzellgruppen auf unsere Phenylalanin-Tryptophan-Mischungen zunächst sehr ähnlich aus. Doch im Lauf der Zeit kippte das Verhalten der Neurone: Es bildeten sich zwei klar unterscheidbare Aktivitätsmuster heraus, von dem eines wohl den Geruch von Phenylalanin repräsentierte, das andere hingegen den von Tryptophan. Dieser Übergang verlief nicht allmählich, sondern abrupt. Offenbar schaltet der Riechkolben bei einer Verschiebung des Mischungsverhältnisses wie mit einem Kippmechanismus zwischen zwei Zuständen hin und her.

Virtuelle Düfte

Dieses Ergebnis hatten wir nicht erwartet, da es eine ganz neue Form der Informationsverarbeitung im Riechsystem aufzeigte: Der Riechkolben rechnet demnach Mischungen von Gerüchen nicht einfach zusammen, sondern filtert - je nach Mischungsverhältnis - einen der beiden Geruchsstoffe aus dem anfänglich gemeinsamen Populationsmuster heraus. Der Fisch nimmt vermutlich aus dem Duftmix entweder nur den einen oder den anderen Geruch wahr, aber nicht beide gleichzeitig. Entsprechend erschnuppern wir aus mehreren hundert Duftkomponenten einer Rose nur ein paar wenige wie die charakteristische Substanz Geraniol.

Was geschieht nun bei Mixturen aus unterschiedlichen Duftstoffen? Um das zu testen, vermischten wir schrittweise die verschieden riechenden Aminosäuren Arginin und Histidin. Wie zu erwarten, sahen die Antworten der Mitralzellen schon gleich zu Anfang sehr unterschiedlich aus. Diese Unterschiede verstärkten sich jedoch mit der Zeit, so dass der Riechkolben auch hier abrupt zwischen den Geruchsantworten umschaltete.

Dabei wurden wir aufs Neue überrascht: Das Netzwerk bildeten jetzt nicht zwei Populationszustände ab, sondern drei! Neben den Populationsmustern, die jeweils die Geruchsstoffe Arginin und Histidin kodierten, tauchte ein weiteres auf, das sich deutlich von den beiden anderen unterschied. Das Netzwerk erschuf aus zwei unterschiedlichen Geruchsstoffen offenbar einen neuen Duft.

Für viele Tiere ist das Riechsystem überlebenswichtig. Sie spüren damit Nahrung auf, es warnt sie frühzeitig vor Feinden, und auch beim Paarungsverhalten spielt der Duft des potentiellen Partners eine zentrale Rolle. Doch die relevanten Gerüche machen nur einen Bruchteil der Flut von Hintergrunddüften aus - die entscheidenden Informationen müssen also herausgefiltert werden. Mit den Verarbeitungsprinzipien der Generalisierung und Separierung haben wir möglicherweise jenen Schlüssel gefunden, durch den der Bulbus olfactorius den ins Gehirn einfließenden Datenstrom auf das Wesentliche reduziert. Ob diese Mechanismen auch beim Menschen eine Rolle spielen, wissen wir noch nicht. Da jedoch der menschliche Riechkolben dem des Fisches grundsätzlich ähnelt, laufen bei uns vermutlich vergleichbare Prozesse ab.

Jörn Niessing ist promovierter Biologe und forscht in der Arbeitsgruppe von Rainer Friedrich am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Researchin Basel (Schweiz).

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