Russische Chemiewaffen Giftiges Erbe des Kalten Kriegs

In russischen Depots lagern Tausende Tonnen hochgiftiger Chemikalien aus Sowjetzeiten. Eine neue Verbrennungsanlage für Kampfstoffe soll jetzt die Altlasten aus dem Kalten Krieg entsorgen - und Deutschland zahlt. Doch die Gefahr ist damit nicht gebannt.
Von Simone Schlindwein

Das verschlafene Provinz-Nest Potschep im Westen Russlands hat eine Kathedrale, ein Heimatmuseum, ein bisschen Industrie - mehr tut sich in dem 17.000 Einwohner starken Städtchen in der Nähe der weißrussischen Grenze scheinbar nicht. Doch vor den Stadtmauern lauert eine giftige Gefahr: 7.500 Tonnen Nervengift aus Armeebeständen lagern in grauen Betonbunkern aus Sowjetzeiten, 67.000 Munitionskörper, prallvoll mit den toxischen Nerven-Kampfstoffen VX, Sarin und Soman.

Auf einem Grundstück direkt neben dem Chemiewaffendepot rollen jetzt die Bagger an. Vertreter der deutschen Botschaft in Moskau haben auf dem Fußballfeld-großen Areal den Grundstein für eine Entsorgungsanlage gelegt. Bei einer maximalen Verbrennungstemperatur von 1200 Grad sollen die giftigen Substanzen inklusive Munitionshüllen ab 2009 eingeschmolzen werden.

Zerstört werden die chemischen Waffen direkt vor Ort. Alles andere wäre zu teuer - und vor allem viel zu gefährlich. Denn die aggressiven Substanzen im Inneren der Munitionskapseln haben diese über Jahrzehnte hinweg porös gemacht: "Die ältesten Waffen sind bis zu 60 Jahre alt. Sie sind darum praktisch nicht mehr transportabel ohne erhebliche Risiken", sagt Stephan Robinson von Green Cross. Die schweizerische Stiftung unterstützt die Abrüstung von chemischen und konventionellen Waffen in Russland.

Der deutsche Steuerzahler finanziert den Abbau

Die Firma Eisenmann Anlagenbau aus dem schwäbischen Böblingen liefert die dafür erforderlichen Anlagen: die Sprengkammer, um die Munition zu knacken, die Robotertechnik, um die chemischen Bomben zu transportieren, sowie die Öfen, in denen die Nervengase und giftigen Flüssigkeiten umweltgerecht verbrannt werden. Übrig bleiben sollen nur Salze, Schwermetalle, Asche und Schrott.

Die aufwendige Zerstörung des russischen Chemiewaffenarsenals geht auf Kosten der deutschen Steuerzahler. Rund 115 Millionen Euro hat das Auswärtige Amt den Russen allein für diese Anlage bereit gestellt. Und das ist längst nicht alles: In Gornij, in der Region Saratow, wurden bereits 50 Millionen Euro investiert, um 1.250 Tonnen giftiger Kampfstoffe einzuschmelzen. In der russischen Republik Udmurtien, westlich des Urals, hat die Bundesrepublik den Bau einer Anlage mit 150 Millionen Euro unterstützt, die Europäische Union zahlte noch einmal vier Millionen Euro drauf. In der Region lagern 6.350 Tonnen des Kampfstoffs Lewisit, der die Haut verbrennt. Das sind 16 Prozent des gesamten russischen Arsenals.

Insgesamt flossen bislang 340 Millionen Euro deutsches Steuergeld in die Vernichtung russischer Chemiewaffen, bestätigt das Auswärtigen Amt gegenüber SPIEGEL ONLINE. Doch warum gibt der deutsche Staat dafür heute noch immer Geld aus? Um das zu verstehen, muss man einen Blick in die nahe Geschichte werfen: Die beiden Supermächte Russland und die USA einigten sich nach dem Ende des Kalten Krieges auf die Abrüstung ihrer chemischen Waffenarsenale. Russland unterzeichnete 1993 die internationale Chemiewaffen-Konvention und ratifizierte dieses Abkommen 1997. "Damals war das Land wirtschaftlich sehr schwach und hätte ohne internationale Hilfe die Ziele nicht erreichen können", sagt Michael Luhan, Sprecher der Organisation zur Verhinderung Chemischer Waffen (OPCW).

"Furchtbare Waffen in falschen Händen"

Die Rubelkrise zwang die russische Wirtschaft 1998 endgültig in die Knie. "Deswegen versprachen westliche Staaten im Jahr 2002 auf dem G8-Gipfel in Kanada insgesamt 2,2 Milliarden Dollar Unterstützung", erklärt Luhan. Und das Auswärtige Amt bestätigt gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Es gibt eben entsprechende vertragliche und politische Absprachen, und die gilt es einzuhalten, um unsere Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen." Außerdem habe Deutschland ein eigenes Interesse, damit diese furchtbaren Waffen nicht in die falschen Hände geraten, sagt der Sprecher.

Den Löwenanteil der Kosten trage Russland selbst, sagt OPCW-Sprecher Luhan: 5,8 Milliarden Dollar. Allein im vergangenen Jahr investierte Russland eine Milliarde Dollar, in diesem Jahr sogar 1,5 Milliarden Dollar. Das berichtete kürzlich Elena Ratuschkina, Chefin der Abteilung für Konventions-Probleme von chemischen und biologischen Waffen der Industrie-Agentur. Das ist die in Russland zuständige Behörde. Gleichzeitig beschwerte sich Wiktor Cholstow, Vize-Chef der Industrie-Agentur über die internationalen Partner: Bislang hätten die G-8 Länder insgesamt nur 25 Prozent der zugesagten Gelder investiert, sagte er. Hier steht auch Deutschland noch in der Schuld: 1,5 Milliarden Dollar waren ursprünglich bis 2012 in Aussicht gestellt worden.

Immerhin: 27 Prozent des russischen Arsenals seien in den vergangenen Jahren vernichtet worden, erklärte Ratuschkina. Mit 40.000 deklarierten Tonnen ist Russland der weltgrößte Chemiewaffenbesitzer. Die USA liegen mit 30.000 Tonnen auf Platz zwei. Bis zum Jahr 2012 will sich Russland aller chemischer Kampfstoffe entledigen, beteuerte Ratuschkina im April noch einmal. Die Einschränkung folgte im Nebensatz: Das Vernichtungsvorhaben gelte erstens nur für diejenigen Substanzen, die sich auf russischem Territorium befinden, und zweitens nur für jene, die in der Liste der Konvention zur Vernichtung von chemischen Waffen verzeichnet seien. Doch genau an dieser Stelle hat die Sache einen Haken.

Russische Spezialwaffe - auf keiner Liste verzeichnet

Zwei russische Chemiker schockten im Jahr 1992 die Welt - kurz bevor Russland die internationale Konvention über Chemische Waffen unterzeichnen sollte. Lew Fjoderow, später Vorsitzender des Verbandes für Chemische Sicherheit in Russland, und Will Myrsajanow, der später in die USA flüchtete, veröffentlichten in der Moskauer Wochenzeitung "Moskowskije Nowosti" einen bahnbrechenden Artikel. Von einer chemischen Waffe ganz neuen Typs war darin die Rede. "Nowitschok" nannten die Chemiker die Substanz - das russische Wort für "Neuling". Anstatt Gas oder Dampf benutzten die Sowjets angeblich feines Puder, das einen toxischen Nerven-Wirkstoff beinhalte. Noch dazu bestehe das Gift aus mehreren Komponenten. Sie wirkten erst in dem Moment giftig, in dem sie vermischt würden.

Politisch besonders brisant: Die Forscher erklärten, die einzelnen Substanzen für den tödlichen Cocktail seien nicht auf der Schwarzen Liste der internationalen Chemiewaffen-Konvention aufgeführt. Das giftige Puder bestehe aus Inhaltsstoffen, die in jeder sowjetischen Düngemittelfabrik hergestellt werden könnten. "Inspektoren werden es schwer haben, dieses verdeckte Chemiewaffenprogramm zu entschlüsseln", warnte Myrsajanow.

Dabei erwies sich der Kampfstoff als fünf- bis siebenfach so wirksam wie VX-Gas, das innerhalb weniger Minuten die Atemmuskulatur lähmt - und direkt tötet. Hergestellt und getestet wurden die "Neuling"-Chemikalien in Usbekistan, einer Sowjet-Republik in Zentralasien, in der es bis heute zahlreiche Düngemittelfabriken gibt. Wie die BBC berichtete, haben amerikanische Verteidigungsexperten 1999 die Düngemittelfabrik in Usbekistan inspiziert. Doch einen fertig gemischten, hochgiftigen Cocktail aus den dort hergestellten Düngemitteln konnten sie dort nicht entdecken. Angeblich hätten die Russen 1993 alle Dokumente mitgenommen, als sie Usbekistan verließen.

Bis heute bestreitet Russland die bloße Existenz dieses neuen Kampfstoffes. Doch der Amerikanische Verband der Wissenschaftler "FAS" (Federation of American Scientists) schreibt in einem Report 2001: Die USA bezweifele, dass Russland "den vollen Bestand seines Chemiewaffenarsenals offen gelegt hat".

Es herrscht also nach wie vor Unsicherheit darüber, ob es den fertig gemischten Cocktail noch gibt und wenn ja, wo. Auch Luhan von der internationalen Organisation zur Verhinderung von chemischen Waffen ist unzufrieden mit der heutigen Situation: "Wir haben weltweit mehr als 5000 solcher Chemiefabriken auf unserer Liste, die dringend inspiziert werden sollten."

Deutschland - die Wiege der chemischen Kampfstoffe

Ob nun die Nervengase Sarin, die Flüssigkeiten Soman oder Tabun: Die Namensgeber dieser Kampfstoffe waren meistens deutsche Chemiker. Die Nervengifte Sarin und Tabun entdeckten während des Zweiten Weltkrieges eine Wissenschaftlergruppe um den Chemiker Gerhard Schrader, die für die I.G. Farben arbeitete. Eigentlich suchten sie nach einem geeigneten Insektenbekämpfungsmittel - heraus kam letztlich ein höchst wirksames Gift, das im Krieg gegen Menschen eingesetzt werden sollte.

1944 stellten deutsche Fabriken 30 Tonnen Sarin, 12.000 Tonnen Tabun und kleinere Mengen Soman her. Die Wehrmacht füllte Tabun in Bomben und Granaten, die jedoch nie gezündet wurden. Nach dem Ende des Krieges plünderte die Rote Armee die Waffenlabore und brachte die Chemikalien, vor allem Sarin und Soman, in die Sowjetunion. Damit ist das Mega-Arsenal der Russen auch, ein bisschen zumindest, ein deutsches Erbe, für dessen Vernichtung die Bundesrepublik heute bezahlt.

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