Konflikte um Windkraftausbau Abstand nehmen von Abstandsregeln

Deutschland muss mehr Windkraftanlagen bauen. Nur wo? Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung spricht sich für überraschende Vorschläge aus.
Die Zahl der Windparks wird in Deutschland künftig steigen

Die Zahl der Windparks wird in Deutschland künftig steigen

Foto: Arnulf Hettrich / IMAGO

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In einigen katholisch geprägten Gegenden Deutschlands schmückt sich so manche Hausfassade mit diesem Spruch: »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd and’re an«.

Die Haltung, die diesen volkstümlichen Zeilen zugrunde liegt, wird Sankt-Florian-Prinzip genannt oder auch Nimby – ein Kunstwort, das sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Phrase »not in my backyard« zusammensetzt, »nicht in meinem Hinterhof«.

Beide Begriffe beschreiben ein – wenn man ehrlich ist – sehr menschliches Verhalten, das auch in der Debatte über den Windkraftausbau zu beobachten ist: wenn man Probleme lieber in den Lebens- und Zuständigkeitsbereich anderer verschiebt. Die Zahl derer, die es grundsätzlich befürworten, klimaneutralen Strom aus der unendlichen Ressource Wind zu erzeugen und zu nutzen, ist in Deutschland groß. Sie liegt bei mehr als 80 Prozent. Die generelle Zustimmung nimmt jedoch ab, wenn es darum geht, ob eine Windkraftanlage vor der eigenen Haustür gebaut werden soll.

Doch es ist für Deutschlands Energiewende unerlässlich, dass mehr Windräder mehr grünen Strom produzieren.

Wie lassen sich die Hürden des Ausbaus also überwinden?

Es brauche Gesetzesänderungen, mahnt der Sachverständigenrat

Dazu hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen nun eine mehr als hundert Seiten umfassende Stellungnahme veröffentlicht. Der Sachverständigenrat ist ein Gremium, das die Bundesregierung zu umweltpolitischen Fragen berät. Ihm gehören in wechselnder Besetzung sieben Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen an, etwa aus der Umweltwissenschaft, der Energiewirtschaft oder der Politikwissenschaft.

Die Stellungnahme zeigt: Der Ausbau der Windenergie stockt, was aber bei Weitem nicht nur an Widerständen in der Bevölkerung liegt. Es gibt verschiedene Ansätze, die die politischen Entscheidungsträger und -trägerinnen verfolgen sollten. Denn der Sprung, den es zu bewältigen gilt, ist groß: Derzeit liefern Windenergieanlagen an Land 55 Gigawatt Leistung – bis 2030, so ist es im Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien festgeschrieben, sollen es rund 71 Gigawatt werden.

Das Hauptproblem dabei: Wo sollen all die neuen Windräder hin?

Zwei Prozent der Fläche – machbar

Mitte Januar stellte der neue Bundeswirtschafts- und -klimaminister Robert Habeck (Grüne) ein Klimaschutz-Sofortprogramm  vor. Geplant ist darin unter anderem, dass jedes Bundesland zwei Prozent seiner Fläche für den Ausbau von Windenergie bereitstellt und nutzt. Auch im Koalitionsvertrag ist das festgeschrieben.

Dieses Ziel bewerten die Sachverständigen in ihrem Bericht als sinnvoll und machbar.

In einigen Bundesländern, etwa in Brandenburg, Hessen oder Rheinland­-Pfalz, sind die zwei Prozent politisch bereits verankert. Doch gerade in den Bundesländern, in denen bislang ein geringer Teil der Fläche für die Windenergienutzung ausgewiesen ist, fehlen verbindliche Zielvorgaben, die zumindest in die Richtung der zwei Prozent deuten. In Bayern betrug der Anteil der ausgewiesenen Fläche 2019 lediglich 0,1 Prozent – also ein Promille – der Landesfläche.

Deutschlandweit lag der Anteil der Fläche, die rechtswirksam für die Windener­gie ausgewiesen war, bei höchstens 0,85 Prozent. Für eine »mensch- und naturverträgliche Windenergienutzung« kommen der Stellungnahme des Sachverständigenrats zufolge jedoch bis zu 3,8 Prozent der deutschen Landesfläche infrage.

Flächen, die niemand bewohnen will, eignen sich für Windkraftanlagen

Als scheinbare »Nebensächlichkeiten«, deren »Effekte in der Summe erheblich« sind, beschreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Umwidmung von Flächen, die schon heute weder attraktive Wohngegenden noch schützenswerte Naturgebiete darstellen: Darunter fallen Gewerbeflächen, aber auch Konversionsflächen – Flächen, die weiter durch ihre ehemalige Nutzung geprägt sind. Ein Beispiel sind frühere Deponien, ein anderes sind ehemalige Truppenübungsplätze. Auch die Flächen neben Autobahnen oder Bundes- und Landesstraßen sollten dem Bericht nach für den Bau von Windenergieanlagen geöffnet werden.

Deutlich kontroverser dürfte ein weiterer Vorschlag aufgenommen werden: Die Fachleute fordern, die sogenannte Länderöffnungsklausel im Paragraf 249 des Baugesetzbuches zu streichen, ersatzlos. Diese Klausel, die 2014 eingeführt wurde, ermöglicht es Ländern, pauschale Regeln für Mindestabstände von Wohnanlagen zu Windrädern einzuführen.

Zwei Bundesländer haben diese Klausel genutzt. Die bayerische Landesregierung, die zu jener Zeit gern vor einer »Verspargelung der Landschaft« warnte, bestimmte 2014 mit der sogenannten 10­-H-Regelung, dass der Mindestabstand zwischen Windkraftanlagen und Wohnhäusern mindestens das Zehnfache der Gesamthöhe der Anlage betragen muss. Moderne Anlagen mit einer Höhe von 200 Metern dürfen damit nur dort gebaut werden, wo im Umkreis von zwei Kilometern niemand wohnt. Zwischen 2010 und 2018 sei in Bayern die Zahl der Genehmigungen von Windenergieanlagen um bis zu 90 Prozent zurückgegangen – maßgeblich wegen dieser 10-H-Abstandsregel.

Auch Nordrhein-Westfalen nutzte die Länderöffnungsklausel und beschloss 2021 einen Mindestabstand von 1000 Metern zwischen Windkraftanlagen und Wohnsiedlungen.

»Die Länder dürfen nicht die bundesrechtlichen Klima­schutzziele konterkarieren.«

Aus der Stellungnahme des Umweltrats

Nach Angaben des Umweltbundesamtes würde eine bundesweite Einführung eines pauschalen 1000-Meter-Abstands die verfügbare Fläche um 20 bis 50 Prozent verringern und in einigen Ländern sogar um 70 bis 90 Prozent. »Die Länder dürfen bei der Wahrnehmung ihrer Gesetz­gebungskompetenz nicht die bundesrechtlichen Klima­schutzziele konterkarieren«, mahnen die Sachverständigen.

Nun unterscheiden sich die 16 deutschen Bundesländer allerdings in ihrer Topografie. Sie sind unterschiedlich dicht besiedelt, sie beheimaten unterschiedlich viele Naturschutzflächen. Ein Stadtstaat hat andere Voraussetzungen als ein Flächenstaat. Und nicht überall weht gleich viel Wind. Das erkennen die Fachleute an und schlagen einen Kompromiss vor: Warum sollten sich nicht mehrere Regionen – gegebenenfalls auch länderübergreifend – bei der Konzentrationsflächenplanung zusammenschließen? So könnten sie die Zielvorgaben gemeinsam erreichen, ohne dass jede einzelne Region ihre Zielvorgabe zwingend erreichen müsste. Mit entsprechendem Ausgleich.

Nicht jeder Wald sei gleichermaßen schützenswert

Auch das Thema Natur- und Artenschutz ist ein Faktor, der die Flächenverfügbarkeit bedingt. Die Mitglieder des Sachverständigenrats rufen dazu auf, Lösungen zu finden, die allen Anforderungen genügen. »Die Vereinbarung des Artenschutzrechts mit dem Ausbau der Windenergie erfordert besondere Anstren­gungen«, schreiben sie.

Über das Wie dieser Vereinbarkeit denken Fachleute seit Langem nach (mehr dazu lesen Sie hier ). Der Sachverständigenrat spricht sich nun für Standardisierungen und eindeutige Rechtsgrundlagen aus, er fordert aber zum Beispiel auch, Wälder nicht pauschal als nutzbare Flächen auszuschließen. Mit dieser Begründung: Wälder unterscheiden sich hinsichtlich ihres ökologischen Werts deutlich. Ein alter, artenreicher Laub- oder Mischwald ist für die ökologische Gemeinschaft der Waldbewohner viel wertvoller als eine Fichten-Monokultur. Wälder, die eine hohe Zahl an Arten beheimaten, sollten für die Windenergienutzung tabu sein.

Landschaftsschutzgebiete hingegen sollten nicht per se als Windenergieflächen ausgeschlossen werden. Insgesamt fällt mehr als ein Viertel der Fläche Deutschlands in diese Kategorie, in manchen Bundesländern – etwa im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen – machen Landschaftsschutzgebiete mehr als 40 Prozent der Fläche  aus.

»Wir können nicht mit unseren Entscheidungen warten, bis wir absolute Sicherheit haben.«

Wolfgang Köck, Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen

Der Jurist Wolfgang Köck, der das Department Umwelt- und Planungsrecht am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung leitet, sagte bei der Vorstellung des Papiers: »Wir können nicht mit unseren Entscheidungen warten, bis wir absolute Sicherheit haben.« Die Folgen, die der Ausbau der Windenergie für den Artenschutz womöglich hat, müssten wissenschaftlich stärker begleitet werden. Ohne ein gewisses Maß an Pragmatismus werde es aber nicht gehen.

Die Planung darf nicht Jahre dauern

Als verbesserungswürdig beschreiben die Experten und Expertinnen außerdem die Planungsverfahren von Windenergieanlagen. Sie seien »aufwendig, langwierig und fehleranfällig«. Auf regionaler Ebene müsse man im Bereich Windenergie mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von 5,3 Jahren rechnen.

Insgesamt seien die Anforderungen, die über die Jahre entwickelt worden seien, an bestimmte geeignete Flächen so anspruchsvoll, »dass es schwierig ist, ihnen gerecht zu werden«, schreiben die Fachleute. Der Gesetzgeber müsse deshalb versuchen, die Rechtssicherheit zu erhöhen, mit konkreteren, einheitlicheren, einfacheren Vorgaben.

Dem scheint sich der Gesetzgeber nun wirklich widmen zu wollen. Bundeskanzler Olaf Scholz, der im Wahlkampf selbst »ein gewisses Umsetzungsdefizit« beim Windkraftausbau kritisierte, sagte auf der ersten Klausurtagung des Kabinetts  im Januar: Die Bundesregierung müsse Planungs- und Genehmigungsverfahren neu definieren – mit »Tempo«. Weniger Bürokratie versprachen die Regierungsparteien außerdem im Koalitionsvertrag.

Der vielleicht größte Hebel, um regional für mehr Akzeptanz der Windkraftanlagen zu sorgen, dürfte aber einmal mehr das Geld sein. Auch dazu machen die Sachverständigen einen Vorschlag.

Die Gemeinden, in denen Windstrom produziert wird, sollten nicht nur von den Nachteilen betroffen sein, sondern müssten ihrerseits einen Vorteil aus der Energieerzeugung ziehen. Wie könnte dieser Vorteil sichtbar werden? Wenn Gemeinden mit den Einnahmen aus Windkraftanlagen Kindergärten finanzieren und Schwimmbäder und Theater, wenn der kollektive Nutzen steigt. Und wenn Verbraucherinnen und Verbraucher in der Nachbar­schaft von Windenergieanlagen vergünstigte Stromtarife bekommen.

Wo das funktioniert, schwindet auch das Problem mit der Akzeptanz. »Regionale Wertschöpfung findet durchaus bereits statt«, sagt Claudia Kemfert. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung tätig. »In den Regionen, die das klug machen, sind auch die Akzeptanzwerte hoch.«

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