Schizophrenie Wurzeln des Wahns

Etwa 13.000 Menschen werden in Deutschland Jahr für Jahr mit der Diagnose Schizophrenie konfrontiert. Mediziner wie Thomas Nickl-Jockschat von der RWTH Aachen versuchen herauszufinden, welche Genvarianten zu der Erkrankung beitragen und wie die Störung sich im Gehirn auswirkt.
Verlorenes Terrain: Manche Hirnregionen haben bei Schizophrenen ein verringertes Volumen

Verlorenes Terrain: Manche Hirnregionen haben bei Schizophrenen ein verringertes Volumen

Foto: Gregory R.Samanez-Larkin /Joshua W. Buckholtz

Das Wort "schizophren" weckt irreführende Assoziationen. Der Name der Krankheit (von altgriechisch: schizein = spalten; phren = Seele) suggeriert eine gespaltene Persönlichkeit - doch mit "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" hat die Schizophrenie nichts zu tun. Als der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857 - 1939) zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Begriff einführte, hatte er vielmehr das Auseinanderfallen von Denken, Fühlen und Wollen der Betroffenen im Sinn.

Tatsächlich handelt es sich bei den schizophrenen Psychosen um eine ganze Gruppe neuropsychiatrischer Störungen mit teils recht unterschiedlichen Kennzeichen. Meist gliedern Psychiater die von Fall zu Fall erheblich variierenden Krankheitsbilder nach sogenannten Positiv- und Negativsymptomen. Zu ersteren zählen Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und ein gestörtes Ich-Erleben, bei dem die Betroffenen die Grenze zwischen Selbst und Umwelt nicht mehr klar ziehen können. Diese Krankheitsanzeichen treten häufig schubweise auf und lassen sich medikamentös verhältnismäßig gut in den Griff bekommen. Lang anhaltende Negativsymptome wie Antriebsmangel, fehlende Konzentrationsfähigkeit, Schlafstörungen und Gefühlsarmut, welche den Patienten oft erheblich zu schaffen machen, sind dagegen nur schwer behandelbar.

Ursachen und Mechanismen der immer noch unheilbaren Erkrankung sind bis heute rätselhaft. Doch nur wer versteht, wie Schizophrenien entstehen und was dabei im Gehirn geschieht, kann den Patienten wirkungsvoll helfen. Um das Übel an den Wurzeln zu packen, versuchen daher Mediziner unter anderem herauszufinden, welche Genvarianten zu der Störung beitragen und welche physiologischen Veränderungen im Gehirn von Schizophrenen auftreten.

Dass die Krankheit zumindest zum Teil vererbt wird, offenbart bereits ihre familiäre Häufung - je näher eine Person mit einem Betroffenen verwandt ist, desto höher liegt ihr Erkrankungsrisiko. Besonders drastisch zeigt sich dies bei eineiigen Zwillingen: Leidet eines der genetisch identischen Geschwister an Schizophrenie, dann trägt das andere ein Risiko von schätzungsweise 45 bis 75 Prozent, ebenfalls zu erkranken. Bei zweieiigen Zwillingen, die ja wie normale Geschwister miteinander verwandt sind, liegt die Erkrankungswahrscheinlichkeit zwischen 4 und 15 Prozent.

Fatales Erbe oder ungünstige Umwelt?

Demnach spielen genetische Faktoren zwar eine Rolle bei der Krankheitsentstehung, sie entscheiden aber keineswegs allein über den Ausbruch. Sonst müssten eineiige Zwillinge ein exakt übereinstimmendes Erkrankungsrisiko tragen. Neben dem biologischen Erbe mischen also auch Umwelteinflüsse mit.

Da eineiige Zwillinge relativ selten sind - und von diesen wiederum nur ein bis zwei Prozent eine psychotische Episode erleiden -, beruhen Zwillingsstudien zur Schizophrenie meist auf sehr geringen Fallzahlen. Deshalb erweist sich die Quantifizierung der genetischen Komponenten als schwierig. Wissenschaftler greifen daher auf Metaanalysen zurück, welche die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassen. So hat 2003 Patrick Sullivan von der University of North Carolina in Chapel Hill (USA) gemeinsam mit seinen Kollegen zwölf Zwillingsstudien ausgewertet. Dabei erwies sich die Genetik als wichtigste Größe. Sie macht demnach bis zu 80 Prozent des Erkrankungsrisikos aus. Andere Wissenschaftler kamen zu ähnlichen Größenordnungen und schätzen den Einfluss von Umweltfaktoren auf 20 bis 50 Prozent.

Doch welches sind die entscheidenden Gene? Erste Hinweise brachten Chromosomenveränderungen, die bei Schizophrenien gehäuft auftreten. In einer Studie von 2002 fanden der Isländer Hreinn Stefansson von der Firma deCode Genetics in Reykjavik und seine Kollegen auf dem achten Chromosom einen Erbfaktor, der bei der Krankheit eine Rolle zu spielen scheint: Das Gen Neuregulin-1 (NRG1) übernimmt im Zentralnervensystem zahlreiche Aufgaben. Unter anderem unterstützt es die Wanderung von Neuronen während der embryonalen Reifung der Großhirnrinde, sorgt dafür, dass die Hirnzellen mit Myelin ummantelt werden - was die Erregungsleitung beschleunigt - und fördert die Entwicklung der Gliazellen. Mutationen dieses Gens scheinen die neuronale Entwicklung im Embryo zu stören, was zum späteren Ausbruch einer Schizophrenie beitragen könnte. Metastudien wie die von Wissenschaftlern um Lin He von der chinesischen Universität Schanghai aus dem Jahr 2006 bestätigten den Einfluss von NRG1 auf die Entstehung von Schizophrenie.

Genetik und Umweltfaktoren spielen eine Rolle

Schon 1990 entdeckten David St. Clair von der schottischen University of Edinburgh und seine Kollegen bei Schizophreniepatienten einen Austausch von bestimmten Abschnitten zwischen den Chromosomen 1 und 11. Dies führte zur Identifikation von zwei Risikogenen: DISC1 und DISC2 genannt (vom englischen Disrupted in Schizophrenia). DISC2 scheint das Ablesen von DISC1 zu beeinflussen, dessen biologische Funktion jedoch noch rätselhaft ist.

Joseph Callicot vom National Institute of Mental Health in Bethesda (US-Bundesstaat Maryland) vermutet, dass eine Veränderung des Gens die Reifung von Nervenzellen im Hippocampus beeinträchtigt, einer zentralen Schaltstelle des Gehirns. Schizophreniepatienten, die an einer bestimmten Stelle des DISC1-Proteins die Aminosäure Serin trugen, offenbarten in Hirnscans ein reduziertes Volumen an grauer Substanz im Hippocampus.

Zu den am meisten untersuchten Erbfaktoren im Zusammenhang mit Schizophrenie zählt das auf Chromosom 22 liegende Gen für das Protein Catechol-O-Methyltransferase (COMT). Das Enzym baut den Neurotransmitter Dopamin im synaptischen Spalt ab, und eine Störung im Dopaminstoffwechsel des Gehirns gilt als Risikofaktor für Schizophrenie. Offensichtlich steigert ein Austausch der Aminosäure Methionin durch Valin an Position 158 die Aktivität des Enzyms.

Träger dieser Mutation weisen einen erniedrigten Dopaminspiegel auf, worunter etwa das Arbeitsgedächtnis leidet, wie Michael Egan vom National Institute of Mental Health 2001 nachweisen konnte. Sein Team fand bei Schizophrenen einen leicht erhöhten Anteil der Valinversion des Enzyms. Weitere Forschergruppen wie die von Xiangning Chen an der Virginia Commonwealth University in Richmond (USA) konnten dies bestätigen. Lin Hes Labor in Schanghai fand 2005 allerdings keine Korrelation zwischen Schizophrenie und den COMT-Genvariationen. Es könnte sein, dass die Mutation die Krankheit zwar nicht auslöst, aber ihren Verlauf auf Grund der eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit verschlimmert.

Neben der Genetik spielen wie eingangs erwähnt auch Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Wissenschaftler unterscheiden hierbei zwei Gruppen. Zunächst sind solche Einflüsse zu nennen, die ihre schädigende Wirkung bereits früh auf das sich entwickelnde Gehirn entfalten. Hierunter fallen Traumata oder Sauerstoffmangel während der Geburt. Aber auch Infektionskrankheiten der Mutter - insbesondere im letzten Drittel der Schwangerschaft - können den späteren Ausbruch schizophrener Psychosen begünstigen.

Gefährlicher Einzeller

Sogar Parasiten wie Toxoplasma gondii werden verdächtigt, Schizophrenie beim Nachwuchs auszulösen: Der Toxoplasmoseerreger wird durch Katzenkot übertragen und befällt normalerweise Mäuse, die sich dann magisch von ihren Fressfeinden angezogen fühlen. Der Parasit greift wahrscheinlich in den Dopaminstoffwechsel seines Wirts ein - und im Blut schizophrener Patienten finden sich auffallend viele Toxoplasmoseantikörper, die auf eine Infektion während der Schwangerschaft hindeuten.

Möglicherweise sind nicht die Krankheitskeime selbst, sondern die immunologische Abwehr des mütterlichen Organismus für die Schädigung des Embryos verantwortlich. Hierfür sprechen Hinweise, dass Genvarianten des sogenannten Haupthistokompatibilitätskomplexes (MHC, Major Histocompatibility Complex) - ein zentraler Bestandteil des spezifischen Immunsystems - bei Schizophrenien ebenfalls eine Rolle spielen.

Die zweite Gruppe schädigender Einflüsse entfaltet ihre Wirkung erst während der Pubertät oder im Erwachsenenalter. Neben Cannabiskonsum dürfte sich hier psychosozialer Stress ungünstig auswirken. Weibliche Geschlechtshormone könnten dagegen zu einem gewissen Grad vor Schizophrenie schützen. Dies würde erklären, weshalb Frauen zwar nicht seltener, insgesamt aber später als Männer erkranken.

Was geschieht nun im Gehirn schizophrener Patienten? Neben dem deutschen Psychiater Emil Kraepelin (1856 - 1926) beschäftigten sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch dessen Schüler Franz Nissl (1860 - 1919) und Alois Alzheimer (1864 - 1915) systematisch mit dieser Frage. Allerdings erzielten sie auf Grund ihrer eingeschränkten technischen Möglichkeiten kaum wegweisende Erkenntnisse. Erst der Einsatz moderner bildgebender Verfahren, vor allem der Magnetresonanztomografie (MRT), lieferte seit Mitte der 1980er Jahre Einblicke in die neuroanatomischen Veränderungen, die mit der Erkrankung einhergehen. Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die allerdings oft zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kamen.

Die Hirnanomalien sind keineswegs statisch

Martha Shenton von der Harvard Medical School in Brockton (US-Bundesstaat Massachusetts) und ihre Kollegen veröffentlichten 2001 eine große Übersichtsarbeit, die 193 MRT-Studien aus den Jahren zwischen 1988 und 2000 berücksichtigte. Als einer der häufigsten Befunde bei Schizophreniepatienten erwies sich eine Volumenzunahme der Seitenventrikel. Diese flüssigkeitsgefüllten Hohlräume liegen mitten in den Fasermassen des Großhirns, die wiederum die verschiedenen Hirnstrukturen miteinander verknüpfen. Es lag daher nahe zu vermuten, dass bei Schizophrenen diese Verknüpfungen durch eine Verminderung der Faserstränge gestört sind.

Bei etlichen anderen Hirngebieten ergaben die MRT-Messungen dagegen eine Volumenabnahme. Hierunter fielen vor allem Regionen im Stirn- und Schläfenlappen wie der präfrontale Kortex, die Amygdala, der Hippocampus oder der Gyrus temporalis superior - Areale, die für Fühlen und Denken wichtig sind. Allerdings zeigten sich von Patient zu Patient starke Unterschiede, so dass eine Diagnose schizophrener Störungen anhand neuroanatomischer Befunde weiterhin nicht möglich ist.

Ein Modell der Entstehung schizophrener Psychosen

Interessanterweise treten die Hirnveränderungen - wenn auch in geringerem Maß - bei gesunden Verwandten ersten Grades von Schizophreniepatienten ebenfalls auf, wie 2007 eine Metaanalyse niederländischer Wissenschaftler um Heleen Boos von der Universität Utrecht ergab. Auch in so genannten Hochrisikogruppen mit mindestens zwei unter Schizophrenie leidenden Verwandten - die immerhin ein zehnprozentiges Erkrankungsrisiko tragen - zeigten mehrere Strukturen im Schläfen- wie auch im Stirnlappen ein verringertes Volumen; das fanden Stephen Lawrie von der University of Edinburgh und seine Kollegen 2001 heraus. All dies deutet auf einen hohen genetischen Einfluss für diese Auffälligkeiten im Gehirn hin.

Die Hirnanomalien sind keineswegs statisch, sondern verändern sich im Lauf der Zeit. So konnten Forscher um Neeltje van Haren von der Universität Utrecht 2008 nachweisen, dass die graue Substanz im Stirn- und Schläfenlappen mit fortschreitendem Krankheitsverlauf abnimmt. Dabei korreliert die Stärke des Rückgangs mit dem Grad der chronischen Beeinträchtigungen der Patienten sowie der Häufigkeit und Schwere der akuten psychotischen Schübe. Unklar bleibt, ob Krankheitsmechanismen während der Psychose zu den Volumenverminderungen führen oder ob umgekehrt die Psychose wegen der Hirnveränderungen entsteht.

Auf Grund dieser Daten versuchen Mediziner ein umfassendes Modell der Entstehung schizophrener Psychosen aufzustellen. Zu den ältesten Modellvorstellungen gehört die so genannte Vulnerabilitäts-Stress-Hypothese, welche die amerikanischen Psychologen Joseph Zubin (1900 - 1990) und Bonnie Spring 1977 aufstellten. Demnach bricht die Krankheit bei einer angeborenen oder erworbenen Verletzlichkeit ("Vulnerabilität") erst dann aus, wenn zusätzliche schädigende Einflüsse wie biologische oder psychosoziale Stressfaktoren auftreten.

In die gleiche Richtung weist die Two-Hit-Hypothese. Deren Vertreter gehen davon aus, dass neben einer genetischen Veranlagung zusätzlich ein oder mehrere krankheitsbegünstigende Umweltfaktoren ("Second Hits") hinzukommen müssen - etwa Infektionen während der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel bei der Geburt, sozialer Stress oder Drogenkonsum. Die Wissenschaftler nehmen an, die Funktion der mit Schizophrenie zusammenhängenden Gene, die in ganz bestimmten Phasen der Hirnentwicklung aktiv sind, könne durch derartige "Second Hits" beeinflusst werden. Ob und wenn ja, wie dies geschieht, ist allerdings ungeklärt.

Doppelter Schlag

Nach der Mehrläsionen-Hypothese verursachen genetische Mutationen und schädigende Umwelteinflüsse Hirnveränderungen, ohne dass jedoch die Krankheit später zwingend ausbricht. Erst zusätzlicher Drogenkonsum oder auch psychosozialer Stress führe dann zu einer verminderten Freisetzung hemmender Botenstoffe - was in einen Psychoseschub münden kann. Gemäß der Mehrläsionen-Hypothese reichen bei Schizophrenie - im Gegensatz zu anderen Psychosen, die ebenfalls mit Wahnsymptomen einhergehen, aber deutlich besser behandelbar sind - die körpereigenen Reparaturmechanismen nicht mehr aus, um das neuronale Netzwerk wiederherzustellen.

Heiß diskutieren Mediziner auch die Frage, ob schizophrene Psychosen durch den Untergang von Nervenzellen entstehen können. Mehrere Risikogene für Schizophrenie wirken sich unmittelbar auf Neurone aus: Neuregulin-1 unterstützt die Neubildung von Synapsen, DISC1 fördert die Neurogenese. Mutationen in diesen Genen könnten zu einem Verlust von Nervenzellen führen. Allerdings wissen wir bis heute noch nicht, ob die bei der Schizophrenie beobachteten Volumenminderungen tatsächlich auf abgestorbene Hirnzellen zurückgehen oder ob die Neurone wegen einer anderweitig verminderten Funktionsfähigkeit degenerieren und dadurch an Volumen verlieren - oder ob eine dritte, bisher noch unbekannte Ursache vorliegt.

Trotz der bedeutenden Fortschritte der letzten Jahre bleibt die Schizophrenie immer noch ein Rätsel. In jedem Fall können wir monokausale Erklärungen getrost ad acta legen: So beruht das Leiden keinesfalls - wie noch vor einigen Jahren von Ärzten vermutet - auf einer "schizophrenogenen" Mutter, die durch dominantes Verhalten ihr Kind in die Krankheit treibt. Ebenso wenig gibt es ein einzelnes "Schizophreniegen", das allein die Krankheit auslöst. Entscheidend ist das Wechselspiel zwischen Genen und Umwelt. Wenn wir dieses Ineinandergreifen verschiedener Faktoren noch besser durchschauen, öffnen sich wohlmöglich für diese schwere neuropsychiatrische Störung neue Wege der Heilung.

Thomas Nickl-Jockschat ist Mediziner am Universitätsklinikum der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

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