Schreckgespenst Mathematik Forscher fürchten Formeln

Formeln in Fachpublikation: Gleichungen senken die Zitierquote
Foto: SPIEGEL ONLINEMathematik polarisiert. Die einen mögen sie und sind fasziniert von Zahlen und Funktionen. Die anderen meiden Mathe, wo sie nur können. Der Physiker Stephen Hawking berücksichtigte dies ausdrücklich in seinen populären Büchern: "Man hat mir gesagt, dass jede Gleichung in dem Buch die Verkaufszahlen halbiert", schreibt er in "Eine kurze Geschichte der Zeit". Er habe trotzdem eine Gleichung im Text untergebracht und hoffe, damit nicht die halbe Leserschaft zu vergraulen.
Die Furcht nicht weniger Menschen vor Mathematik lässt sich kaum bestreiten. Doch dass sogar unter Wissenschaftlern die Angst vor Formeln grassiert, überrascht dann schon. Schließlich erwartet man von Forschern, dass sie ihr Handwerkszeug beherrschen - und dazu gehört nun mal auch die Mathematik.
Tim Fawcett und Andrew Higginson von der University of Bristol haben die Abneigung vieler Forscher gegenüber Formeln entdeckt, als sie 649 wissenschaftliche Studien aus dem Bereich Biologie miteinander verglichen. Die Artikel wurden sämtlich im Jahr 1998 in den Fachblättern "Evolution", "Proceedings of the Royal Society of London B" und "The American Naturalist" veröffentlicht. Bei jedem Artikel zählten die Forscher die darin vorkommenden Gleichungen.
Anschließend schauten Fawcett und Higginson, wie oft jedes der 649 Paper in anderen wissenschaftlichen Aufsätzen zitiert wurde. Zitate sind in der Wissenschaft die wohl wichtigste Währung. Je mehr davon eine Veröffentlichung einheimst, als umso bedeutender gilt sie. Dieses Prinzip nutzt übrigens auch die Suchmaschine Google bei der Berechnung des sogenannten Page Rank.
Die Auswertung der Zitatstatistik hatte ein eindeutiges Ergebnis: Je mehr Gleichungen ein Biologe in seiner Arbeit verwendet, umso seltener wird er von Kollegen zitiert. Eine zusätzliche Gleichung pro Seite hat zur Folge, dass die Zahl der zitierenden Arbeiten um 22 Prozent sinkt.
"Das ist ein großes Problem"
Insgesamt wurden die 649 untersuchten Artikel in 28.068 anderen Artikeln als Referenz angegeben, was einem Durchschnitt von 45 Zitaten pro Paper entspricht. Die Zahl der Gleichungen pro Seite schwankte zwischen Null und 7,5. Viele der stark mathematisch geprägten Artikel hätten nur halb so viele Verweise aus anderen Artikeln wie Texte ohne Gleichungen, schreiben die Forscher im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences" .
Um dem Phänomen auf den Grund zu gehen, haben die Wissenschaftler die Artikel auch danach eingeteilt, ob sie eher theorielastig sind oder experimentell. Dabei stellte sich heraus, dass nichttheoretische Arbeiten kaum Paper mit mathematischem Inhalt zitieren.
"Das ist ein großes Problem", sagt Fawcett, "denn alle Zweige der Forschung beruhen auf engen Verbindungen von mathematischen Theorien und Experimenten". Wenn Theorien in einer Art präsentiert würden, die Forscherkollegen abschreckten, dann werde sie auch niemand experimentell überprüfen. "Das ist ein Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt."
Um die Kommunikation zwischen Theoretikern und Praktikern zu verbessern, empfehlen die Forscher zum einen eine Verbesserung der mathematischen Ausbildung der Studenten. Zum anderen sollten Autoren ihre Theorien auf eine Weise präsentieren, die auch von einem größeren Publikum verstanden werden kann. "Es ist keine Ideallösung, die Mathematik zu verstecken", sagt Higginson. Vielmehr sollte diese um mehr erklärenden Text ergänzt werden.
Das wird jedoch häufig durch die strengen Vorgaben der Fachmagazine konterkariert: "Die Top-Magazine wollen extrem kurzgefasste Artikel", erklärt Fawcett. Es gebe jedoch mittlerweile eine Lösung dafür: Man könne Gleichungen in den Anhang (Supporting Information) auslagern, der nicht gedruckt wird, auf den Leser aber bei Bedarf online zugreifen können. "Das kann die pragmatischste Lösung sein."
Fawcett und Higginson folgen dem Prinzip "so wenig Formeln wie möglich" in ihrer eigenen Veröffentlichung selbstredend: In dem Artikel taucht keine einzige Gleichung auf, es gibt aber immerhin Statistiken in Form von Tabellen und Diagrammen. Wer in die Details einsteigen will, kann einen Blick in die opulente Excel-Tabelle werfen, die sämtliche untersuchten Paper auflistet.