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Selbstmord-Mörder: Hinrichtung als Freikarte ins Paradies

Foto: The Royal Library, Copenhagen/ Tina Madsen

Historische Verbrechen Übers Schafott in den Himmel

Im 17. und 18. Jahrhundert wählten Lebensmüde eine brutale Methode, um der Hölle zu entkommen: Sie begingen Morde, weil sie glaubten, der Gang zum Schafott lösche ihre Sünden aus und mache den Weg ins Himmelreich frei. Das Morden griff in Nordeuropa so um sich, dass Dänemark verblüffend reagierte.

Im Jahr 1639 ersticht der Hamburger Schuhmacher Johann Kardener seinen erst siebenjährigen Schwager. Er gesteht und wird, wie es in jenen Tagen üblich war, zum Tode verurteilt. Doch auf dem Weg zum Richtplatz verhält Johann Kardener sich äußerst ungewöhnlich. Er ist gelassen und heiter. Laut betend breitet er die Arme aus und segnet die Zuschauer. Dann fällt er seinem Henker um den Hals. Er solle seine Aufgabe ja gut erledigen, ermahnt er ihn.

Der arme Henkersknecht aber ist von dem Auftreten seines Opfers so verstört, dass er zweimal den Hals des Mörders verfehlt. Erst beim dritten Schlag gelingt es ihm, den Kopf vollständig abzutrennen. Das Volk ist empört! Der glückliche, betende Mörder hat ihre Herzen zutiefst bewegt - und verdiene einen würdigen Tod. Der wütende Mob jagt den armen Henkersknecht in die Stadt, wo ihn schließlich die Soldaten retten, indem sie einige Schüsse ins Volk feuern.

Johann Kardener aber hatte erreicht, was er wollte: den Eintritt ins Paradies. Der Schuhmacher war lebensmüde. Hätte er sein Leben aber selbst beendet, wäre seine Seele geradewegs in die Hölle gefahren, daran glaubte er. Einem Mörder, der im Augenblick vor seinem Tod alle seine Sünden aus vollem Herzen bereut, gewährt Gott jedoch den Eingang ins Himmelreich. Und so hatte Johann Kardener gemordet, um Selbstmord zu begehen.

Schuld war im Grunde genommen Martin Luther

Der Hamburger war nicht der Einzige, der diesen Plan verfolgte. Angefangen im 17. Jahrhundert rollte besonders im 18. Jahrhundert eine Welle von Selbstmord-Morden durch Nordeuropa. Der Historiker Tyge Krogh von den Dänischen Staatsarchiven hat diese Morde untersucht und kommt zu schauerlichen Schätzungen: Im 18. Jahrhundert gab es in Kopenhagen pro 100.000 Einwohner eineinhalb Selbstmord-Morde. In Stockholm waren es 0,6 bis 0,8 Fälle pro 100.000 Bürger - und in Hamburg 0,4 bis 0,5.

Beeinflusst war die Motivation der Todeswilligen maßgeblich von Martin Luther. Er war es, der die Geschichte mit der Sündenvergebung so wörtlich auslegte. "Luther glaubte, dass wir Erlösung erlangen, wenn wir zu unseren Sünden stehen, sie ehrlich bedauern und fest an Gott glauben", erklärt Krogh. Alles entscheidet sich so erst im letzten Augenblick des Lebens. Wer zu dem Zeitpunkt seine Sünden gesteht und bereut, der hat keine Gelegenheit mehr, neue zu begehen, und fährt so mit frisch gereinigter Seele geradewegs in den Himmel. So wurden die Selbstmord-Morde zu einer Plage, die im Windschatten der evangelisch-lutherischen Reformation in Nordeuropa Einzug hielt.

Die Sympathie des Volkes war oft - wie im Fall Johann Kardeners - mit den Mördern. Einige wurden sogar regelrecht verehrt. Bekannt ist ein Fall aus dem Städtchen Wernigerode im Harz, wo die Magd Magdalena Bremmel im Jahr 1744 die vierjährige Tochter ihres Herren umbrachte. Magdalena war nie ein angenehmer Mensch gewesen. Getrieben von Neid und Habgier hatte sie gelogen und betrogen, um eine gute Herkunft vorzutäuschen: Sie wollte unbedingt vom Sohn ihres Arbeitgebers geehelicht werden. Als sie ihre Pläne scheitern sah, verfiel sie in tiefe Depressionen. In ihrer Verzweiflung tötete sie schließlich das kleine Mädchen, um als Mörderin auf dem Schafott zu landen.

Kein abschreckendes Beispiel

Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode aber lag das Seelenheil seiner Untertanen so am Herzen, dass er Magdalena gleich vier Priester zur Seite stellte. Sie sollten die Mörderin auf ihre Hinrichtung vorbereiten. Magdalena genoss offensichtlich die Aufmerksamkeit. Tränenreich gestand und bereute sie ihr Sündenregister: Mord, Stolz, Faulheit, Eitelkeit und Habgier. Vier Monate lang sonnte sie sich nach dem Mord in Sympathie. Frauen der Stadt brachten ihr Essen und beten gemeinsam mit ihr.

Am Tag ihrer Hinrichtung schließlich halfen die Frauen ihr, sich anzukleiden. Immer wieder hielt die Verurteilte inne, um in ihr Spruchkästlein zu greifen. Darin lagen Zettel mit Bibelsprüchen, die wie ein Orakel ausgelegt werden konnten. Zwei Schreiber notierten jedes ihrer Worte. Magdalena überließ nichts dem Zufall: Auch die Hymnen, die auf ihrem Weg zum Schafott gesungen werden sollten, hatte sie selbst ausgesucht. Nach ihrem öffentlichen Geständnis hob sie an, mit klarer Stimme "Mein Heyland nimmt die Sünder an" vorzusingen.

Die Menge kam voll auf ihre Kosten. Mehrmals unterbrach Magdalena den Gang zum Richtplatz, um laut zu beten. Alle ihre Gebete notierten die eifrigen Schreiber mit. Das letzte, das sie noch vor dem Schafott kniend sprach, ist drei ganze Seiten lang. Am Ende war ihr Tod kein abschreckendes Beispiel einer Strafe für Kindstötung - sondern ein leuchtendes Vorbild dafür, welche Heiligkeit sich durch einen Selbstmord-Mord erlangen lässt.

Tätern die Hände abgehackt

Das bemerkten schließlich auch die Gerichte und zogen das Strafmaß an. In Dänemark gingen die Militärgerichte dazu über, Selbstmord-Mörder zu zusätzlichen neun Wochen Auspeitschung vor der Hinrichtung zu verurteilen. War der Tag gekommen, zertrümmerte der Henkersknecht dem Verurteilten mit einem großen Rad so viele Knochen wie möglich, bevor er ihn daran aufhängte, bis er seinen Verletzungen erlag. Die Zivilgerichte gingen ähnlich rabiat mit Selbstmord-Mördern um. Auf dem Weg zum Schafott wurden sie fünfmal mit heißen Eisen traktiert. Als Erstes hackte der Henker ihnen die Hände ab, erst dann den Kopf. Der verstümmelte Körper wurde hinterher auf einem großen Rad für die Öffentlichkeit zur Schau gestellt. "Es waren die härtesten Todesstrafen in der dänischen Geschichte", sagt Krogh.

Geholfen hat es aber nichts. Im Gegenteil - je größer die Qualen auf dem Weg zur Erlösung, desto sicherer der Platz im Himmelreich, glaubte das Volk. Erst im Jahr 1767 konnte Dänemark dem Spuk ein Ende setzen, indem das Land die Todesstrafe für Selbstmord-Mörder schlichtweg abschaffte. Stattdessen wurden sie nur noch einmal im Jahr ausgepeitscht und mussten für den Rest ihres Lebens erniedrigende Strafarbeiten erledigen. "So wurden die Dänen zu Pionieren in der Abschaffung der Todesstrafe", sagt Krogh. "Aber es war nichts, worauf sie stolz waren. Es verstieß gegen das religiöse Konzept der Gerichtsbarkeit." Nach und nach folgten jedoch weitere protestantische Länder dem dänischen Beispiel.

Aber nicht alle. Noch heute morden Lebensmüde, um so ihre Verurteilung zum Tode zu erzwingen. In den USA beispielsweise kommt es immer wieder vor, dass Mörder ihrer Hinrichtung freiwillig zustimmen oder diese sogar beschleunigt herbeiführen wollen. In der Statistik tauchen diese Fälle nicht auf. Doch Forscher gehen davon aus, dass mindestens 20 der mehr als 400 seit Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 Hingerichteten mordeten, um so ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen.

Der wohl bekannteste Selbstmord-Mörder der USA war Gary Gilmore - der Erste, der nach Wiedereinführung der Todesstrafe hingerichtet wurde. Er kämpfte sogar gegen seinen Anwalt für sein Recht auf die Hinrichtung durch ein Erschießungskommando. Seine berühmten letzten Worte haben sich tief in das kulturelle Gedächtnis der Vereinigten Staaten eingegraben und werden heute noch oft zitiert: "Let's do it!"

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Dänemark habe die Todesstrafe im Jahr 1767 abgeschafft. Tatsächlich wurden nur die Hinrichtungen von Selbstmord-Mördern gestoppt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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