Handyfotografie Liebe Leserin, lieber Leser,

das größte Laster unserer Tage, könnte man meinen, ist der "Selfie-Wahn". Die Welt ist ja tatsächlich voll von Leuten, die wie aufgezogen und in jeder Lebenslage Fotos von sich machen. Vermutlich haben auch Sie schon Geschichten von armen Irren gelesen, die beim Selfie-Knipsen von einer Mauer plumpsten oder von einem Zug überrollt wurden. Googeln Sie mal nach Selfie-Unfällen . Die Kulturkritik ist da schnell mit der Diagnose vom epidemischen Narzissmus zur Stelle. Von der hohen Warte der Selfie-Verächter erscheint solch ein Unfall fast schon wie die gerechte Strafe für das selbstverliebte Posieren.

Mich macht es immer stutzig, wenn ein harmloses Vergnügen so zähsinnig verteufelt wird. Ich kann wenig Eitelkeit in dem Geknipse erkennen - schon weil die Bilder in der Regel nicht eben schmeichelhaft ausfallen: diese Grinsegrimassen, die Entenschnuten, das kumpelige Zwinkerzwonker, die aufgerissenen Kulleraugen. Was daran liege, sagt der Leipziger Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich, dass die Selfies eben vor allem an die Empfänger gerichtet seien - großteils unernste Botschaften, die zu Geselligkeit und Austausch ermuntern: "Es ist ein wechselseitiges Albern und Schäkern."

Selfie in Restaurant

Selfie in Restaurant

Foto: E+/ Getty Images

Ullrich hat ein kluges kleines Buch  zum Thema geschrieben. Er versteht das Grimassieren zunächst als Selbstschutz: Wo so viel Privates öffentlich im Netz geteilt wird, dienen die immer gleichen Grimassen als Masken, hinter denen sich der Einzelmensch verbergen kann - er macht es einfach wie alle, darum muss er nichts von sich preisgeben.

Die Kultur der Maskerade ist nicht so neu, wie sie aussieht; sie geht auf uralte Traditionen zurück. Ullrich verweist auf das Theater der Antike, in dem die Schauspieler Masken trugen - sie sollten eine Rolle verkörpern, nicht sich selbst. Auch in der höfischen Gesellschaft der Barockzeit erkennt der Forscher Parallelen. Die Leute ergingen sich unentwegt in einem ausgetüftelten Rollenspiel, sie tauschten Floskeln aus und trugen Perücken. Es galt als hohe Kunst, seine Rolle im Sozialgefüge zu erfüllen. Mit der Frage, ob das alles auch echt und authentisch sei, hätte niemand etwas anfangen können.

Dieses Gefühl für den gemeinschaftlichen Sinn des Schauspiels kehre in den Selfies wieder, glaubt Ullrich. Wer Fotos von sich teilt, nimmt an einer Art sozialem Theater teil. Und da geht es nun einmal nicht darum, wer ich im Innersten bin, sondern wie gekonnt ich meine Rolle im Stück interpretiere.

Vermutlich wird sich die neue Allgegenwart der Selfies auch im alltäglichen Umgang niederschlagen. Wer vor der Kamera andauernd überdeutlich, fast karikaturenhaft posiert, wird früher oder später diese Theatralik ganz normal finden. Beobachten Sie mal, wie Jugendliche einander heute auf der Straße begrüßen. Mir kommt das viel exaltierter vor als früher. Ullrich wiederum hat beobachtet, dass beliebte Selfie-Grimassen auch schon in der Alltagsmimik durchscheinen. Er sagt, er rechne mit einer "insgesamt expressiveren Gesichtskultur".

Denken Sie ab und zu daran, wenn Sie in den Spiegel gucken.

Herzlich

Ihr Manfred Dworschak

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Abstract

Meine Leseempfehlungen dieser Woche

  • Mit der künstlichen Intelligenz ist es ja oft so eine Sache: Ihre spektakulärsten Fähigkeiten demonstrieren die KI-Forscher gern auf Gebieten, in denen Computer von Haus aus gut sind (Brettspiele, Mustererkennung) - für mich ein guter Grund, skeptisch zu bleiben. Jetzt aber müssen die selbstlernenden Maschinen sich an Herausforderern messen lassen, gegen die sie im echten Leben kaum eine Chance haben. Im April beginnt die Olympiade KI gegen Tiere .
  • Soziale Medien mögen ideale Brutbedingungen für Hass und Lügen bieten - aber sind sie auch schuld am Aufstieg von Donald Trump? Diese simple Erklärung überzeugt mich nicht. Forscher der Ohio State University  konnten jetzt zeigen, dass der Einfluss von Facebook & Co. auf die politischen Überzeugungen der Amerikaner im Wahljahr 2016 bemerkenswert gering war.
  • Tieren gucke ich am liebsten beim Herumliegen zu. Jede Gattung zelebriert die Kunst des kontemplativen Kraftsparens offenbar auf ihre eigene Weise. Experten der Uni Zürich  haben jetzt erforscht, was Häufigkeit und Art der Liegepausen - seitlich, in Bauchlage oder gar auf dem Rücken - mit Größe und Lebensweise zu tun haben.
  • Wenn es ums Einsparen klimaschädlicher Treibstoffe geht, erwarte ich noch einige Überraschungen durch menschlichen Erfindergeist. Auch im Schiffsverkehr lässt sich die Effizienz womöglich kräftig steigern, dank einer pfiffigen Idee Karlsruher Forscher : Sie wollen die Schiffe in einer Hülle aus Luft durchs Wasser gleiten lassen.
  • Das Gehirn lernt und lernt, aber wo bringt es all die Erfahrungen und Erkenntnisse unter? Wie sich nun erstmals zeigen ließ, ordnen wir neues Wissen in eine räumliche mentale Landkarte  ein.
  • Die Briten Annie und John, beide über 70, führen in einem bemerkenswerten Dokumentarfilm vor, was sie unter "Soulsex" verstehen.
  • Die Kängururatte ist ein vielgejagtes Fluchttier, insofern gehört ihr schon mal meine Sympathie. Umso mehr, als der kleine Nager im Augenblick der Not das Herz eines Ninja-Kämpfers zeigt: Forscher haben in Superzeitlupe gefilmt , wie akrobatisch sich Kängururatten dem Zugriff einer Klapperschlange entziehen - großes Action-Kino.

Quiz

"42: Answer to the Ultimate Question of Life, the Universe, and Everything" (Douglas Adams)

  • Welcher Vogel ist nach einem Messinstrument benannt?
  • Wie viele Eier legt eine Bienenkönigin am Tag?
  • Was ist die längste je gemessene Wanderstrecke eines Zugvogels?

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Bild der Woche

In marmorner Eleganz zeigt sich der Jupiter neuerdings dank des Einsatzes begeisterter Amateure im Internet. Seit Jahren kreist die Raumsonde "Juno" um den Gasriesen und nimmt dabei Fotos auf - allerdings von bescheidener Güte. Erst die liebevolle Feinarbeit der Freiwilligen macht aus den Rohdaten detailreiche Spektakel. Dieses Bild entstand aus drei Aufnahmen, die bereinigt und in der Farbgebung leicht verändert wurden.

Foto: NASA / JPL-Caltech / SwRI / MSSS / Kevin M. Gill


Fußnote

Abertausende Kilometer können Bakterien offenbar durch die Lüfte reisen. Das ermittelten Forscher an Stämmen, die ausschließlich in heißen Quellen leben - etwa in Russland, Chile oder am Vesuv in Italien. Ähnliche Veränderungen im Erbgut belegen einen regen Transitverkehr zwischen den Regionen. Angesichts der speziellen Habitate scheiden Menschen als Reisevehikel für die Bakterien aus.


Die SPIEGEL+-Empfehlungen aus der Wissenschaft


* Quiz-Antworten: Das Thermometerhuhn, dessen Männchen das Gelege mit großen Erdhaufen abdeckt; mit seinem empfindsamen Schnabel überwacht es beständig die benötigte Bruttemperatur / Bis zu 2000, das entspricht in etwa ihrem Körpergewicht / Eine Küstenseeschwalbe mit Peilgerät legte in einem Jahr 96.000 Kilometer zurück, von der britischen Ostküste in die Antarktis und retour

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