Seltene Entwicklungsstörung
Was den "wilden Peter von Hameln" quälte
Aufgewachsen unter wilden Tieren: Im 18. Jahrhundert entzückte der "wilde Peter" den englischen Königshof. Doch den Jungen, der verwahrlost im Wald entdeckt wurde, plagte wohl eine schwere Entwicklungsstörung. Forscher glauben jetzt, die Ursache für den Mythos Wolfskind gefunden zu haben.
Peter, ca. 1780: Zeit seines Lebens lernte er nicht zu sprechen
Foto: Hulton Archive/ Getty Images
Er war eine Berühmtheit im England des 18. Jahrhunderts: Der "wilde Peter von Hameln" kam als Jugendlicher an den Hof von König George I., wo er für Staunen sorgte. Der Junge sprach kein Wort, sein Verhalten glich zeitgenössischen Beschreibungen zufolge dem eines wilden Tieres, er krabbelte lieber anstatt zu gehen. Peter war 1724 in einem Wald nahe Hameln entdeckt worden, zu diesem Zeitpunkt schätzte man ihn auf zwölf Jahre. Wie später Kaspar Hauser galt er als Wolfskind. Der Naturforscher Carl von Linné beschrieb Peter und ähnliche Fälle sogar als einen anderen Untertypus von Mensch, den Homo ferus - eine grobe Fehleinschätzung.
Aus Peters Leben, der über 70 Jahre alt wurde, ist vieles überliefert. Nach seiner Zeit am Hof verbrachte er viele Jahre in der Obhut einer Familie auf einem Landgut in Herfordshire. Er soll Musik geliebt haben. Sprechen lernte er zeitlebens nicht. Als ungeklärt gilt bisher, womit sich Peters Zustand erklären lässt. Dem ist die Historikerin Lucy Worsley von der britischen Organisation Historic Royal Palaces jetzt nachgegangen.
Typische Symptome
Als wichtiger Anhaltspunkt diente ihr ein Gemälde aus den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts, das im Kensington Palace zu sehen ist, berichtet der "Guardian". Es zeigt den Jungen mit abstehendem, zerzaustem Haar und auffällig geschwungenen roten Lippen.
Mit Hilfe eines Genetikers kam Worsley auf die Diagnose: Peter litt wohl am sogenannten Pitt-Hopkins-Syndrom. Die sehr seltene, durch einen Gendefekt ausgelöste Störung, erklärt einiges, was von Peter bekannt ist. Betroffene sind geistig behindert, das Sprechen lernen sie nur schwer oder gar nicht. Ein breiter Mund mit gebogener Oberlippe ist tatsächlich eines der Kennzeichen der Krankheit. Dass Peter zudem sehr klein war, passt ebenfalls zu Diagnose.
Die angeborene Störung könne erklären, warum seine Familie ihn ausgesetzt habe, vermutet Worsley. Möglich ist, dass der Junge keineswegs jahrelang in den Wäldern gelebt hat, sondern erst kurz zuvor von seinen Eltern vertrieben wurde. Mit letzter Sicherheit lässt sich das natürlich - mehr als 200 Jahre nach seinem Tod - nicht sagen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Carl von Linné habe Mitte des 19. Jahrhunderts den Homo ferus beschrieben. Dies war nicht korrekt - es war Mitte des 18. Jahrhunderts. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.