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Sensation in Südafrika Forscher finden rätselhafte neue Vormenschen-Art

Im menschlichen Stammbaum klafft eine große Lücke. Wer war der direkte Vorfahre der Gattung Homo? Forscher glauben jetzt, die Antwort gefunden zu haben: Sie haben die zwei Millionen Jahre alten Knochen einer neuen Vormenschenart entdeckt.
Von Cinthia Briseño

Hätte der moderne Mensch die Chance, eine Zeitreise in seine eigene Entstehungsgeschichte zu unternehmen, welchen Zeitpunkt würde er wohl wählen? Die Entscheidung könnte möglicherweise auf eine Zeitspanne fallen, die zwei bis drei Millionen Jahre zurückliegt. Denn in der heutigen Vorstellung des Stammbaums der menschlichen Evolution klafft dort eine beträchtliche Lücke.

Es ist die Phase, in der sich der Urmensch entwickelte - vereint unter dem Gattungsbegriff Homo und gekennzeichnet durch ein großes Gehirn sowie die Fähigkeit zur Herstellung von Werkzeugen.

Paläoanthropologen

Menschheitsevolution

Wer waren die direkten Vorfahren von Homo? Und wie ist er zu dem geworden, was er ist? Zahlreiche Knochenfunde aus den vergangenen Jahren haben den zwar immer wieder einen Blick in bestimmte Zeitfenster ermöglicht und so neues Licht auf die geworfen. Doch ebenso haben sie den Forschern immer wieder neue Rätsel aufgegeben. Bis heute ist die vollständige Rekonstruktion eines durchgehenden Stammbaums des Menschen eine ungelöste Aufgabe - und das, obwohl Wissenschaftler jetzt einen neuen spektakulären Knochenfund vorstellen, der sich gut als Lückenfüller eignen könnte.

Fotostrecke

Australopithecus sediba: Der rätselhafte Vormensch

Foto: University of the Witwatersrand / Brett Eloff / Lee Berger

"Dad, ich habe ein Fossil gefunden!", rief der neunjährige Matthew im August 2008 in einer Höhle bei Malapa, einige Kilometer nördlich des südafrikanischen Johannesburg. Der Junge konnte nicht ahnen, welche Bedeutung sein Fund für das Puzzle unserer Existenz einmal haben könnte. Zunächst glaubte sein Vater, der Paläoanthropologe Lee Berger von der Witwatersrand University in Johannesburg , sein Jüngster hätte den Knochen einer Antilope entdeckt. Derartige Überreste werden in südafrikanischen Gesteinsschichten häufig gefunden. Doch als Berger genauer hinsah, erkannte er sofort, dass es sich um ein versteinertes menschliches Schlüsselbein handelte.

Es sollte bei weitem nicht der einzige Knochen bleiben, den Berger, sein Sohn und sein Forscherteam in der Malapa-Höhle entdeckten: Zwei Teilskelette konnten die Wissenschaftler aus den Funden rekonstruieren. Es sind die knapp zwei Millionen Jahre alten fossilen Überreste eines kleinen Jungen und einer Frau. Erst vor kurzem hatten Forscher aus Leipzig eine weitere möglicherweise neue Menschenform präsentiert: Die noch namenlose Spezies ist allerdings wesentlich jünger und stammt aus einer Zeit vor etwa 30.000 bis 48.000 Jahren.

Jetzt, rund ein Jahr nach den Ausgrabungen in der Malapa-Höhle, stellen Berger und sein Kollege Paul Dirks von der James Cook University im australischen Townsville der Presse ihre Ergebnisse vor. Die Details zu den Funden sind in zwei ausführlichen Publikationen  im Fachmagazin "Science"  nachzulesen. Dort bringen Berger und Kollegen eine spektakuläre These zu Papier: Die zwei fossilen Individuen gehören einer neuen, bisher unbekannten Homininen-Spezies (siehe Kasten links) an - und sie sind möglicherweise das Bindeglied zwischen den noch affenähnlichen Vormenschen und der Gattung Homo.

Der Optimismus der Paläoanthropologen wird schon an dem Namen deutlich, den sie der neuen Spezies gegeben haben: Australopithecus sediba. Das Wort "sediba" kommt aus der Bantusprache Sesotho und bedeutet so viel wie "der Quell". Die Aufregung in Bergers Stimme bei der Pressekonferenz ist nicht zu überhören: "Wir haben zwei der bisher vollständigsten Skelette aus der Zeit vor knapp zwei Millionen Jahren gefunden. Die Funde füllen eine entscheidende Lücke im Stammbaum der menschlichen Evolution."

Dann berichtet der Forscher in schnellen und kurzen Sätzen, wie gut die Skelette erhalten waren (siehe Fotostrecke) und welche faszinierenden Eigenschaften sie in sich vereinen: Einerseits zeigen sie typische Merkmale der affenähnlichen Australopithecinen. Sie haben beispielsweise auffällig lange Unterarmknochen und waren deshalb vermutlich noch oft als Kletterer in Bäumen unterwegs. Auch der kleine Schädel der rund 1,30 Meter großen Homininen ähnelt eher dem von Menschenaffen. Doch erstaunlicherweise besaßen sie auch relativ lange Beinknochen und konnten deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit aufrecht gehen. Auch die Beckenform erinnert eher an das, was man bei einem menschlichen Zweibeiner wie etwa dem Homo erectus erwarten würde.

Australopithecus oder Homo?

Ist also Australopithecus sediba tatsächlich die Übergangsform zur Gattung Homo? Kaum sind die Ergebnisse publiziert, scheiden sie auch schon die Geister: "Das ist ein wirklich außergewöhnlicher Fund", wird etwa Meave Leakey von den National Museums of Kenya in Nairobi in einem Begleitartikel in "Science"  zitiert. Die renommierte Paläoanthropologin glaubt, die Skelette zählen tatsächlich zu den Australopithecinen. William Kimbel, Bioanthropologe von der Arizona State University in Tempe, würde sie dagegen in die Gattung homo einordnen.

So könnten die Funde unter Forschern erneut zu einem erbitterten Streit und unter Laien zu allgemeiner Verwirrung führen. "Der Übergang zur Gattung Homo bleibt weiterhin vollkommen unübersichtlich", sagt der Paläoanthropologe Donald Johanson von der Arizona State University, der bereits einen Blick auf die fossilen Überreste werfen durfte.

Unklar bleibt auch, wie man die beiden Homininen-Arten Australopithecus sediba und Homo rudolfensis in einen evolutionären Zusammenhang stellen kann. Denn die Knochenfunde von Homo rudolfensis sind älter als die von Australopithecus sediba, deren Alter 1,78 bis 1,95 Millionen Jahre beträgt. Berger und Kollegen geben zu: Die beiden Individuen aus der Malapa-Höhle in Südafrika selbst sind keine Homo-Vorfahren. Sie glauben aber, dass Australopithecus sediba bereits früher entstanden sein könnte und die beiden Individuen möglicherweise Überlebende aus einer späteren Zeit sind.

Forscher wollen die Gesichter rekonstruieren

Ungeachtet des Durcheinanders um die Klassifizierung - das auch im Fall der Menschenform Homo rudolfensis herrscht - und der Einordnung in den menschlichen Stammbaum sind die Skelette von unschätzbarem Wert für die Anthropologie. Die Überreste sind extrem gut erhalten, und die Skelette sind vollständiger als etwa diejenigen des berühmten Fossils "Lucy". Berger und seine Kollegen wollen aus den Funden noch eine Menge spannender Ergebnisse zu Tage bringen. "Wir werden das Gesicht der zwei Individuen rekonstruieren können", versprach der Forscher auf der Pressekonferenz.

Zudem hat das Grabungsteam um Peter Schmid vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich, das ebenfalls an der Sediba-Forschung beteiligt ist, inzwischen mehr als 180 Fragmente von insgesamt mindestens vier Individuen der bisher unbekannten Vormenschenart gefunden. Verraten wollen die Wissenschaftler vorerst jedoch keine weiteren Details. Auch über die Lebensweise des Australopithecus sediba wagt Berger noch keine Spekulationen. Er sagt vorerst lediglich, dass die Spezies ein guter Kletterer gewesen sein dürfte, aber trotzdem aufrecht gehen konnte.

Unterdessen werden südafrikanische Kinder vor eine ganz andere Aufgabe gestellt: Sie sollen in einem landesweiten Wettbewerb den beiden Individuen aus der weit entfernten Vergangenheit zu einem Namen verhelfen. "Schließlich war es auch ein Kind, das den ersten Knochen gefunden hat", sagt Berger. Allerdings hatten sich die "Science"-Gutachter dagegen entschieden, den neunjährigen Matthew Berger mit auf die Liste der Co-Autoren zu nehmen.

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