Spanische Grippe Millionen starben an Überreaktion des Immunsystems
Der erste Weltkrieg tobte noch, da brach in Spanien schon eine Grippewelle aus, die in den nächsten zwei Jahren fast 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Ende Mai 1918 war in Spanien jeder dritte mit dem damals unbekannten Erreger infiziert, Läden und Büros schlossen, die Straßenbahn stand still.
Die Welle rollte um die Welt und riss insgesamt bis zu 50 Millionen in den Tod. Vor allem junge, gesunde Männer erkrankten und starben kurze Zeit später. "Damals wussten die Menschen nicht, dass es sich um ein Virus handelt. Sie hatten keine Ahnung, welche Gene und welche Proteine dafür sorgten, dass so viele Menschen starben", sagt Michael Katze vom National Primate Research Center der University of Washington in Seattle.
Das ist heute anders: Seit Jahren kennen Wissenschaftler den Erreger der sogenannten Spanischen Grippe, ein Virus der Gruppe H1N1. Sein Genom wurde 2005 entschlüsselt, Versuche an Mäusen haben immer wieder gezeigt, wie aggressiv der Erreger zuschlägt.
Doch was damals genau im Körper der Menschen passierte, ist bis heute ein Rätsel. Während bei "normalen" Grippe-Epidemien vor allem alte Menschen, Immungeschwächte und Kinder in Gefahr sind, waren es 1918 gerade Gesunde zwischen 20 und 40 Jahren, die starben.
Um diesem scheinbar paradoxen Phänomen auf die Spur zu kommen, untersuchte Katze gemeinsam mit Kollegen aus Winnipeg in Kanada und US-Forschern aus Wisconsin zehn Makaken. Wie das Team in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature" berichtet, rekonstruierte es zunächst das Virus von 1918 und infizierte damit sieben der Affen. Die übrigen drei steckte es mit einem herkömmlichen Influenza-Virus aus der H1N1-Gruppe an. Dann beobachteten die Forscher die Tiere, untersuchten Bronchien und Lungen.
Ihr Ergebnis: Die Tiere mit dem 1918-Virus wurden Opfer ihres eigenen Immunsystems. Denn während der herkömmliche H1N1-Erreger im Körper der Primaten für eine schnelle und robuste Abwehr sorgte, die nach wenigen Tagen wieder abklang, kam es bei den Affen mit der Spanischen Grippe zu einer Überreaktion. "Das Immunsystem war vollkommen unreguliert", erklärt Michael Katze die Beobachtungen des Teams. "Besonders nach sechs und acht Tagen waren die Entzündungsreaktionen so unkontrolliert und überschießend, dass die Tiere extrem litten und wir sie töten mussten."
Das Virus zerstörte, wie die nachfolgenden Untersuchungen ergaben, vor allem das Lungengewebe. Die Affen konnten nur noch schlecht atmen, ihr Blut transportierte wenig Sauerstoff und die Viren waren in großen Mengen in den oberen und unteren Atemwegen nachzuweisen. Die mit der herkömmlichen H1N1-Variante infizierten Tiere hingegen erholten sich wieder, nachdem ihre Abwehrkräfte angemessen reagiert hatten.
Das Forscherteam erkennt in seinen Untersuchungen den Ausgangspunkt für ein Modell, was 1918 im menschlichen Körper passiert sein könnte, da Makaken und Menschen viele Eigenschaften teilen. Die Studie liefert Anhaltspunkte, warum ausgerechnet Erwachsene zwischen 20 und 40 Jahren am schwersten unter der Spanischen Grippe litten: Junge Menschen dieses Alters haben generell ein starkes Immunsystem, das ihnen in diesem Fall mehr geschadet als genutzt habe, heißt es in "Nature".
"Wir wissen zwar immer noch wenig über das Virus, aber die Erkenntnis einer überschießenden Immunreaktion war entscheidend", sagt Darwyn Kobasa von der Public Health Agency of Canada in Winnipeg. "Mit diesem Wissen können wir uns anders auf eine eventuelle Pandemie vorbereiten." Gemeint ist eine Kombination aus bekannten Medikamenten, die Ärzte bei einer "normalen" Grippe nicht als erste Wahl ansehen würden: Das Grippemittel Tamiflu könnte laut Katze in dem Fall einer aggressiven Pandemie eventuell mit Arzneien kombiniert werden, die die Immunantwort modulieren.
Sorge bereitet Wissenschaftlern und Ärzten die seit 2003 grassierende Vogelgrippe. Die H5N1-Variante des Grippe-Erregers führt bei 80 bis 100 Prozent der infizierten Vögel innerhalb weniger Tage zum Tod. In seltenen Fällen stecken sich auch Menschen an. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es bisher 267 Fälle von menschlichen Erankungen in zehn Ländern. 161 seien tödlich verlaufen. Erst vor einigen Tagen waren wieder neue Fälle von H5N1 in Japan aufgetreten.
hei/dpa