Speedsurfen Mit 90 Sachen übers Wasser fliegen
Wenn ein Hüne wie Antoine Albeau Angst verspürt, dann muss es ernst sein. Seine Hände packen den Gabelbaum noch fester, als seien sie mit ihm verschweißt. Seine Füße zerren an den Schlaufen, als gelte es, diese abzureißen. Gerade hat der Wind, der mit 100 Kilometern pro Stunde übers Meer peitscht, einem anderen Surfer das Segel aus den Händen gerissen es ist zwei Kilometer weiter durch die Luft gewirbelt.
Doch Antoine Albeau, der 100-Kilo-Mann, hält sein Segel fest. Mit 49,09 Knoten rast er übers Wasser nicht festgeschnallt in dem Schalensitz eines PS-starken Rennboots, sondern auf einem wackligen Surfbrett. Sein Höllenritt mit mehr als 90 Stundenkilometern macht den Franzosen Albeau an diesem Frühlingstag zum schnellsten Segler der Welt. Später wird er sagen: "Es war wirklich angsteinflößend."
Dabei sind die 49,09 Knoten nicht einmal das Spitzentempo, das Albeau erreicht. Sie sind die Durchschnittsgeschwindigkeit über 500 Meter, die offizielle Distanz, auf der Windsurfer und Segler seit langem um Rekorde wetteifern.
Die Schlacht wird erbittert geführt und technisch immer weiter hochgerüstet. Albeaus Brett ist an diesem stürmischen Tag mehr Wasserski als Surfboard. Es wurde eigens für ihn entworfen, ist über zwei Meter lang, 37 Zentimeter schlank und von Hand gefertigt. In voller Fahrt berührt es nur mit dem letzten Drittel das Wasser, das reduziert den Widerstand. Damit es auf Kurs bleibt, sticht eine 22 Zentimeter lange Finne senkrecht ins Meer, ähnlich wie das Schwert bei Segeljollen. Als Triebwerk dient ein 4,8-Quadratmeter-Segel aus reißfestem Monofilm, das von einem ultradünnen Kohlefasermast in Form gehalten wird.
Hightech aus der Bastelecke. Bei der Entwicklung ihrer Rennbretter setzen die Surfer vor allem auf Erfahrung und Gefühl systematische Experimente im Strömungskanal haben bislang kaum Verbesserungen gebracht. "Die Bedingungen auf dem Wasser, wo Scherwinde, Strömungen und Temperaturunterschiede herrschen, scheinen einfach zu komplex zu sein, als dass man sie im Labor nachbilden könnte", sagt Stephan Gölnitz vom Surf-Magazin. "Vor allem aber fehlt der Faktor Mensch."
Und der erweist sich als einfallsreich: Im Kampf um Hundertstelsekunden experimentieren die Athleten mit asymmetrischen Segeln, die nur auf einer Seite den Wind einfangen und Vortrieb entwickeln. So kann der Luftwiderstand verringert werden. Bislang erbrachte das aber noch keine Rekordzeiten. Wichtiger scheinen da die Finnen zu sein: Manche der inzwischen rasiermesserscharfen Minischwerter werden bereits asymmetrisch konstruiert. Dadurch können sie dünner gebaut werden, was den Widerstand im Wasser senkt.
Mit einer derart optimierten Ausrüstung will Antoine Albeau als Erster die 50-Knoten-Grenze knacken die "Schallmauer", wie die Highspeed-Segler sagen. Mit dieser Sehnsucht ist er nicht allein. Etliche Profisurfer und auch einige Jacht-Crews haben dasselbe Ziel. Und dieselben Probleme namens Kavitation und Ventilation. Wenn das Wasser mit extremer Geschwindigkeit um die Finnen zischt, bildet sich lokal starker Unterdruck. Gasblasen entstehen wie aus dem Nichts. "Das Wasser kocht förmlich, bleibt aber kalt", sagt der Strömungsmechaniker Uwe Hollenbach von der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt. "In diesen Kavitationsblasen verlieren die Finnen ihre Wirkung. Ähnlich bei der Ventilation. Hierbei wird Luft unter das Brett gesaugt, die Finnen sind von winzigen Bläschen umschlossen und bieten keine Führung mehr. Die Folge: Kontrollverlust und böse Stürze. Bei solchen Geschwindigkeiten tut das Wasser nicht nur weh, es kann Knochen brechen.
"Ich mag den Adrenalinrausch, das ist ultimativ. Wie wenn du aus der Pistole geschossen wirst"
Der Tanz auf dem Brett ist gefährlich. Im Wettrüsten mit den großen Rennjachten haben Windsurfer dafür einen entscheidenden Vorteil: Sie sind Teil ihres Gefährts. Sie spüren, welche Kräfte wo wirken. Und sie können blitzschnell reagieren, bevor ein Teil unter der Windlast bricht. "Wie ein Büffel mit Ballerinafüßen", so die Kollegen, steuert der Ire Finian Maynard, der vor Albeau den Weltrekord gehalten hat, mit minimalen Fußbewegungen sein 3,2 Kilogramm leichtes Surfboard. Warum er sich das antut? "Ich mag den Adrenalinrausch, das ist ultimativ. Wie wenn du aus der Pistole geschossen wirst."
Damit der Surfer nicht tatsächlich wie ein Geschoss durch die Luft fliegt, muss die Wasseroberfläche möglichst glatt sein: "Je flacher, desto besser", sagt Antoine Albeau. Jede noch so kleine Welle könnte die Surfer aushebeln. Gleichzeitig muss der Wind Orkanstärke haben. Deshalb suchen die Hochgeschwindigkeitssurfer auf der ganzen Welt nach perfekten Stränden. Gefragt sind flache Gewässer, auf die der Wind von schräg hinten trifft, mit vorgelagerten Sandbänken, die die Wellen stoppen.
Einen solchen Platz, vielleicht den besten, haben die Speedsurfer in Saintes-Maries-de-la-Mer gefunden. Hier, an der französischen Mittelmeerküste, bauten sie sich eigens eine Arena für den ultimativen Geschwindigkeitsrausch. Der "French Trench", die französische Rinne, ist 1.100 Meter lang und nur 15 Meter breit. Sie ist so angelegt, dass der Mistral, der oft mit 100 Kilometern pro Stunde durch das Rhônetal pfeift, schräg von hinten auftrifft. Seit 1988 fahren die Profis hier ihre Bestzeiten, auch Antoine Albeau und Finian Maynard haben ihre Rekorde hier aufgestellt. Weitere Rennstrecken gibt es in Mexiko, Namibia, Südengland und Australien.
An all diesen Orten pustet der Wind mit einer Kraft, bei der sich die meisten Menschen selbst an Land kaum auf den Beinen halten können. Die Speedsurfer werden magisch davon angezogen ganz besonders im Frühjahr. Wenn Tiefdruckgebiete kühle Luft heranschaufeln, herrschen beste Bedingungen für schnelle Läufe. Die kalten Luftmassen sind dichter als warme und haben somit mehr Energie. "Sechs bis sieben Grad und 50 Knoten Wind sind perfekt", sagt der 35-fache Windsurf-Weltmeister Bjørn Dunkerbeck, der ebenfalls "die 50 Knoten knacken möchte, bevor es ein anderer tut". Was er dazu braucht, ist neben Technik und Gefühl auch eine Riesenböe, die ihn über den Kurs treibt. Sie zu erwischen, hängt eher vom Glück ab als vom Können.
Das World Sailing Speed Record Council, das jeden neuen Rekord bestätigen muss, überlässt dagegen nichts dem Zufall: Zwei Kameras eine am Start und eine im Ziel der 500-Meter-Strecke filmen jede Fahrt. Anhand der Zeitdifferenz zwischen beiden Punkten lässt sich die Durchschnittsgeschwindigkeit mit einer Genauigkeit von 0,06 Knoten berechnen. Sind zwei Fahrer enger beieinander, werden die Bilder übereinandergelegt. So können die Hüter der Segelrekorde millisekundengenau ermitteln, wer schneller war.
Es ginge auch einfacher: Mit einem GPS-Empfänger am Handgelenk messen Hobby-Racer auch ihre Zeiten. Für offizielle Rekorde ist das System allerdings noch nicht anerkannt. Es fehlen Beweise seiner Zuverlässigkeit. "GPS-Messungen sind in 95 Prozent der Fälle relativ genau. Aber es gibt Ausreißer", sagt Markus Schwendtner, Tourmanager der internationalen Speedsurfer.
Im Training fährt auch Antoine Albeau mit GPS. Seine Kollegen nennen ihn den "französischen Elefanten". Nicht weil er sich bewegt wie ein Dickhäuter im Gegenteil, Albeau ist agil wie ein Salsatänzer , sondern wegen seiner 100 Kilo. Auf seine Highspeed-Ritte bereitet er sich konsequent vor: Gewichte stemmen für die Kraft, mentales Training für die Konzentration, Wellenreiten für die Balance. Damit er dem Druck des Segels zusätzliche Pfunde entgegenstemmen kann, trägt er eine zehn Kilo schwere Weste. Nur gegen die Angst hat er noch nicht die perfekte Technik gefunden.