
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
SPIEGEL-Klimabericht Atomkraft? Nein, danke, wirklich nicht
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wie macht man es denn nun? Wie wuppt die Welt die größte Herausforderung des Jahrhunderts?
Ab Sonntag diskutieren einige der mächtigsten Menschen der Welt über diese Frage – bei der UN-Klimakonferenz in Glasgow. Meine Kollegin Susanne Götze wird zwei Wochen lang vor Ort sein und berichten, wer auf dem Gipfel welche Ideen vorbringt.
Eine der Ideen, die ganz sicher vorgetragen werden, ist diese: Warum setzen wir nicht auf super praktische, super kleine und super saubere Kernreaktoren ? Damit könnte sich die Welt mit Strom versorgen, ohne Tonnen an CO₂ auszustoßen, und könnte direkt alle Kohlekraftwerke abstellen.

»Klimabericht« ist der SPIEGEL-Podcast zur Lage des Planeten. Wir fragen, ob die ökologische Wende gelingt. Welche politischen Ideen und wirtschaftlichen Innovationen überzeugen. Jede Woche zeigen wir, welchen Einfluss die Klimakrise auf unseren Planeten hat und warum wir im spannendsten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts leben.
Es gibt immer wieder Stimmen, die sich für eine Wiederentdeckung der Atomkraft aussprechen, im französischen Präsidentenpalast und im SPIEGEL. Im IPCC-Bericht wird Kernenergie als Möglichkeit erwähnt, zumindest einen kleinen Teil des Energiebedarfs emissionsfrei zu decken. Und auch Bill Gates wirbt aktuell für den Ausbau der Kernkraft, Gas sei schließlich noch schlimmer.
Auf knapp hundert Seiten: nein danke
Die internationale Forschungsgruppe der Scientists for Future hat vor wenigen Tagen einen beinahe hundert Seiten umfassenden »Diskussionsbeitrag« vorgelegt, der zu einem anderen Schluss kommt. Derzeit würden rund zehn Prozent der weltweiten Stromproduktion durch Kernkraft gedeckt. Und verschiedene Akteure, nationale und supranationale, würden der Atomenergie eine »gewisse Bedeutung« auf dem Weg zur Klimaneutralität beimessen.

Anfang November trifft sich die Staatengemeinschaft im schottischen Glasgow zur 26. Uno-Klimakonferenz, der COP26. Auf dem zweiwöchigen Treffen geht es darum, die Ziele der Länder zu erhöhen und gemeinsame Regeln für den Kampf gegen die Klimakrise zu definieren. Lesen Sie hier alle Artikel zum Gipfel.
Doch, heißt es in dem Schreiben weiter, die Erfahrungen aus den vergangenen sieben Jahrzehnten legten nahe, »dass ein solcher Pfad mit erheblichen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Risiken verbunden ist.«
Zur Lösung der Klimakrise, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, kann die Kernenergie nicht beitragen.
Das sind die wichtigsten Punkte des Papiers
Kernkraft ist gefährlich:
Seit 1945 hätten sich in jedem Jahrzehnt und in jeder Region, die Kernenergie nutzt, Unfälle ereignet. Die Folgen solcher Unfälle seien potenziell katastrophal. »Kernkraft ist derart risikobehaftet, dass Kernkraftwerke nirgendwo versichert werden können«, sagte etwa Ben Wealer, Leitautor der Studie und Mitglied der Organisation Scientists for Future.
Die finanziellen Folgen einer Nuklearkatastrophe würden – wie im Fall von Fukushima, Tschernobyl oder dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island – einfach der Gesellschaft aufgebürdet. Von geplanten SMR-Reaktorkonzepten sei keine wesentlich größere Zuverlässigkeit zu erwarten.
Und: Kernkraft kann zweckentfremdet werden. Es bestehe »permanent die Gefahr des Missbrauchs von waffenfähigem Spaltmaterial« für terroristische Zwecke.
Auch die Langfristrisiken der Endlagerung seien nicht überschaubar und wiesen zukünftigen Generationen erhebliche Lasten zu.
Kernkraft ist nicht wirtschaftlich:
Die kommerzielle Nutzung von Kernenergie sei in den 1950er-Jahren als Nebenprodukt militärischer Entwicklungen entstanden und habe nie den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle geschafft. Der laufende Betrieb älterer Kernkraftwerke werde heute zunehmend unwirtschaftlich.
Zusätzlich würden weitere Kostenpunkte meist übersehen: die »derzeit weitgehend unbekannten« Kosten für den Rückbau von Kernkraftwerken und Ausgaben für die Endlagerung radioaktiver Abfälle.
Kernkraft ist nicht schnell genug verfügbar:
Der Zeitraum, in dem die Menschheit gegen eine drastischere Entwicklung der Klimakrise ankommen kann, ist begrenzt: Der Ausbau von Kernkraftanlagen stagniere weltweit, die Fortschritte technischer Innovationen seien gering. Deshalb könne die Kernkraft in den zwei bis maximal drei Jahrzehnten, die für die Bekämpfung der Klimakrise relevant sind, keine Rolle spielen.
Kernkraft bremst die eigentlich notwendige Transformation:
Nach Einschätzung der Scientists for Future blockiert die Kernenergie die Transformationsprozesse, die für eine Energiewende hin zur klimaneutralen Stromproduktion notwendig sind. Das Verweisen auf die Chancen von Atomstrom würde Innovationen bremsen und Investitionen binden, die besser in wirklich nachhaltige Energiesysteme fließen sollten.
Was vor allem notwendig ist: radikale Reduktionen
Man mag diese Gewichtung der Vor- und Nachteile von Atomstrom nun teilen oder nicht.
Aber: Die Uno-Klimakonferenz sollte nicht zu einer Plattform werden, auf der Teil- und schlimmstenfalls Scheinlösungen diskutiert werden. Ob Kernkraft einen kleinen Teil des weltweiten Energiebedarfs decken kann und sollte, muss geklärt werden. Aber das ist eben nur ein Randaspekt.
Die Staatengemeinschaft muss klare, unumstößliche Regeln und Wege finden, wie die CO₂-Emissionen drastisch gesenkt werden können. Mit den Mitteln und Technologien, die ihr jetzt und heute zur Verfügung stehen.

Sollten wir in der Klimakrise doch wieder auf Atomstrom setzen? Die Scientists for Future lehnen diesen Vorstoß ab
Foto: Michael Utech / iStockphoto / Getty ImagesWenn Sie mögen, informieren wir Sie einmal in der Woche über das Wichtigste zur Klimakrise – Storys, Forschungsergebnisse und die neuesten Entwicklungen zum größten Thema unserer Zeit. Zum Newsletter-Abo kommen Sie hier.
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Ihre Viola Kiel