
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
SPIEGEL-Klimabericht Wer hat noch kein Zertifikat, wer will noch eins?
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
noch bis zu diesem Freitag, bis zum 21. Januar, haben die Mitgliedstaaten der EU und das Europäische Parlament die Möglichkeit, den Vorschlag der EU-Kommission zur sogenannten Taxonomieverordnung zu kommentieren.

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Viel wurde seit Jahresbeginn über den Vorstoß der Kommission berichtet, mit dem Investitionen in neue Atomkraftwerke und Erdgasanlagen als »grün« klassifiziert werden – als nachhaltige Geldanlage. Der Widerstand wächst, doch die Hürden sind hoch, die das Vorhaben verhindern könnten.
Die Taxonomieverordnung ist aber nicht der einzige Schritt, den die EU unternimmt, um ihren Klimazielen – Nettoemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent runter, Klimaneutralität bis 2050 – etwas näher zu rücken.

»Klimabericht« ist der SPIEGEL-Podcast zur Lage des Planeten. Wir fragen, ob die ökologische Wende gelingt. Welche politischen Ideen und wirtschaftlichen Innovationen überzeugen. Jede Woche zeigen wir, welchen Einfluss die Klimakrise auf unseren Planeten hat und warum wir im spannendsten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts leben.
Am Donnerstag tagte der EU-Umweltrat bei einem informellen Treffen in der Stadt Amiens in Nordfrankreich. Auf der Tagesordnung stand unter anderem ein Thema, das bislang eher abseits der medialen Aufmerksamkeit steht: ein geplantes zweites EU-Emissionshandelssystem für die Sektoren Gebäude und Verkehr, das »ETS 2«.
Vorgestellt hatte die EU-Kommission dieses Projekt im Juli vergangenen Jahres, als Teil des »Fit for 55«-Pakets .
24 Prozent mehr Emissionen im Verkehrssektor
Auf die Sektoren Straßenverkehr, Gebäudeheizung, Landwirtschaft, kleine Industrieanlagen und die Abfallwirtschaft entfallen zusammengenommen rund 60 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU. Und von allein scheint sich das Problem nicht zu regeln: Der jährliche CO₂-Ausstoß im Verkehrssektor etwa lag EU-weit 2018 um 24 Prozent höher als noch 1990.
Die EU-Kommission will aber, dass die Emissionen in den Sektoren Gebäude und Straßenverkehr bis 2030 um 43 Prozent gegenüber dem Jahr 2005 sinken. Dafür soll ein separates Emissionshandelssystem her, um die Treibhausgasausstöße aus Kraft- und Brennstoffen, die im Straßenverkehr und in Gebäuden verwendet werden, zu kompensieren.
Wie die Pläne für dieses System bisher aussehen, haben Wissenschaftler von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und dem Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft für die Organisationen Klima-Allianz, Germanwatch, WWF und Climate Action Network in einer Studie ausgewertet.
Daraus einige Punkte:
Als ergänzendes Instrument sei die Einführung eines Emissionshandelssystems für Gebäude und Straßenverkehr in der EU sinnvoll und nützlich.
Denn für einen CO₂-Preis gilt ja ganz allgemein die Idee: Die Kosten für die Schäden, die durch den Treibhausgasausstoß entstehen, müssen diejenigen tragen, die die Schäden verursachen. Das ist in den beiden neuen Sektoren nicht anders als im Bereich der Industrie und der Energiewirtschaft.
Die Ausgabe von Emissionszertifikaten sei dafür ein Weg, mit dem sich die Menge der Treibhausgase, die ausgestoßen werden dürfen, regeln lasse. Und das transparent und nachvollziehbar.
Weil der Emissionshandel auf europäischer Ebene stattfinden soll, gibt es die Chance, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen Staaten über bestimmte Verteilmechanismen abzumildern. Relativ gesehen ist die finanzielle Belastung durch einen allgemeingültigen und damit überall gleich hohen CO₂-Preis ja unterschiedlich stark, abhängig vom Lohnniveau.
So, wie sich die Belastung unterscheidet, fällt auch der Treibhausgas-Ausstoß unterschiedlich aus: Pro Kopf wird in Luxemburg, Irland oder Deutschland ein Vielfaches mehr an Emissionen freigesetzt als in Rumänien, Bulgarien oder Estland. Besonders ausgeprägt ist dieses Missverhältnis im Verkehrssektor. Ein finanzieller Ausgleich wäre also fair.
Und konnte etwa so aussehen: 50 Prozent der Einnahmen sollen in einen Sozialen Klimafonds fließen, 47,5 Prozent sollen an die Mitgliedstaaten gehen, um klima- und sozialpolitische Maßnahmen zu bezahlen. Mit dem Rest soll ein Innovationsfonds »innovative CO₂-arme Technologien« fördern.
Die Summe, um die es insgesamt geht, ist nicht klein: Die EU rechne für den Zeitraum zwischen 2026 und 2032 mit Einnahmen in Höhe von 287 Milliarden Euro.
Vorgesehen ist, dass der Emissionshandel für den Verkehrs- und den Gebäudesektor 2026 startet. Möglich ist auch, dass es bereits 2025 losgeht.
Wie wirksam ist das Instrument?
Viele dieser Punkte klingen noch relativ vage. Das nahmen auch die Klima- und Umweltschutzorganisationen, die die Studie in Auftrag gegeben haben, zum Anlass für Kritik. Es sei unklar, wie hoch die Klimaschutzwirkung tatsächlich ausfalle, sagte etwa Malte Hentschke-Kemper, der stellvertretende Geschäftsführer der Klima-Allianz Deutschland: »Ein Emissionshandel ohne ausreichende Klimaschutzwirkung, der dazu noch die Ärmeren stärker trifft, wäre absurd und würde die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen gefährden.« Die Regelungen zum sozialen Ausgleich müssten klarer formuliert werden.
Und ganz allgemein kann man sich fragen: Wie wirkungsstark ist das Instrument des CO₂-Zertifikathandels in der EU?
Zu Beginn waren die Parameter falsch gesetzt, das ist heute klar: 2005 wurden beispielsweise so viele Zertifikate ausgegeben, dass der Preis für die »Verschmutzungsrechte«, die frei gehandelt werden können, auf null sank – wegen eines Überangebots. Doch weil die Menge an Zertifikaten und damit die CO₂-Obergrenze stetig sinkt, und die EU zudem ihre Klimaziele 2020 verschärft hat, kostet es mittlerweile mehr als 80 Euro, eine Tonne CO₂ in die Luft zu pusten. Und seit Einführung des Emissionshandels im Jahr 2005 gingen die Emissionen laut EU in den wichtigsten erfassten Sektoren um fast 43 Prozent zurück.
Da scheint es doch sinnvoll, den Pool der Unternehmen, die für Emissionen zahlen müssen, zu erweitern. Aktuell müssen rund 11.000 Unternehmen, die Geld durch Strom- und Wärmeerzeugung verdienen oder in der energieintensiven Industrie tätig sind, ihren Kohlendioxidausstoß über den EU-Emissionshandel kompensieren.
Und auch die EU zeigt sich zuversichtlich: Aufbauend auf den »positiven Ergebnissen« solle nun das zweite Emissionshandelssystem entstehen, hieß es von der Kommission.
Auf einen Punkt, der in der Studie genannt wird, kommt es dabei besonders an: Das »ETS 2« darf nicht das einzige Instrument bleiben.

Die EU will einen Zertifikatehandel für die Sektoren Gebäude und Verkehr einführen
Foto: golero / Getty ImagesWenn Sie mögen, informieren wir Sie einmal in der Woche über das Wichtigste zur Klimakrise – Storys, Forschungsergebnisse und die neuesten Entwicklungen zum größten Thema unserer Zeit. Zum Newsletter-Abo kommen Sie hier.
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Bleiben Sie zuversichtlich,
Ihre Viola Kiel